Ringvorlesung
im Wintersemester 2002/2003
DIE
TRAGÖDIE
Eine
Leitgattung der
europäischen
Literatur
Donnerstag, 18 Uhr c.t.,
Bibliothekssaal in der
Paulinerkirche
(am 24. 10. ausnahmsweise in der Aula der
Universität am Wilhelmsplatz 1)
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17.10.2002 — Heinz-Günther Nesselrath
Aischylos, „Orestie“:
Ein erster Höhepunkt des europäischen Theaters
24.10.2002 — Klaus
Nickau
31.10.2002 — Hans
Bernsdorff
07.11.2002 — Günther Patzig
14.11.2002 — Ulrich
Schindel
21.11.2002 —
Heinz-Joachim Müllenbrock
28.11.2002
— Manfred Engelbert
Kann die comedia tragisch sein?
Überlegungen zum spanischen
Welttheater des siglo de oro
05.12.2002 — Dirk
Niefanger
12.12.2002 — Hans Günter
Funke
Die französische tragédie classique:
Racines „Phèdre“
19.12.2002 — Irmela von
der Lühe
09.01.2003
— Werner Frick
Tragödienexperimente
um 1800:
Die Weimarer
Klassik und ihre Antipoden
16.01.2003 — Reinhard
Lauer
23.01.2003
— Horst Turk
Tragödienphilosophien
der Neuzeit:
Kant, Hegel, Nietzsche, Benjamin
30.01.2003 — Martin
Staehelin
06.02.2003 — Fritz Paul
13.02.2003 — Fred Lönker
Der Verfall des Tragischen
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17. Oktober 2002
Prof. Dr. Heinz-Günther
Nesselrath
Zwar wurde der Ruhm des Aischylos lange von
dem seiner jüngeren Rivalen Sophokles und Euripides überstrahlt (deren Stücke
wurden seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. den seinigen bis weit in die Neuzeit
vorgezogen), doch waren die Athener des 5. Jahrhunderts anderer Meinung: Sie
ehrten Aischylos nicht nur nach seinem Tod (456/5 v. Chr.) damit, daß sie
seinen Stücken unbegrenzte Wiederaufführungsmöglichkeit zugestanden, sondern
sie erkannten noch fünfzig Jahre später Aristophanes den ersten Preis im
Komödienwettbewerb zu, als er in seinen Fröschen
Aischylos zur Krone der attischen Tragödienkunst erklärte. In der Tat erhielt die
attische Tragödie vor allem durch Aischylos in der ersten Hälfte des 5.
Jahrhunderts v. Chr. ihre charakteristische Form: Seine ‚Erfindung’ der zweiten
Sprechrolle machte die für sie typische Abfolge von Sprechakten und
Chorauftritten möglich und schuf damit etwas, was sowohl in Richtung Singspiel
wie reines Sprechdrama weiterentwickelt werden konnte.
Wenige Jahre vor Aischylos’ Tod aufgeführt
(458), bildet die Orestie den Höhepunkt
seines Schaffens. Als einzige aus der Antike erhaltene Stücktrilogie vermittelt
sie uns auch einen einzigartigen Eindruck von einem typischen Theatererlebnis
im klassischen Athen, wo man einen ganzen Tag damit zubrachte, zuerst drei
tragische Dramen und danach noch ein Satyrspiel zu verfolgen. Mehr als seine
beiden großen Rivalen hat Aischylos für solche Stückfolgen auch übergreifende
Inhalte gesucht; so stellt die Orestie
die sich von Generation zu Generation fortpflanzende Kette von Verbrechen im
Fürstenhaus der Atriden dar, bis es durch die Begründung einer neuen Rechtsform
gelingt, den Kreislauf der Vergeltung dauerhaft zu durchbrechen. Die drei
Stücke zeigen packende, stark miteinander kontrastierende Charaktere und
spannende Entscheidungssituationen; Aischylos’ visuelle Effekte waren schon in
der Antike berühmt. Schon in der Orestie
zeigt so das europäische Theater, was es zu leisten vermag.
Literaturempfehlungen: Textausgabe: M. L. West, Aeschyli
tragoediae cum incerti poetae Prometheo, Stuttgart 1990. – Übersetzung: B.
Seidensticker, Aischylos, Orestie in der Übersetzung von Peter Stein, mit
einem Nachwort hrsg., München 1997. – Kommentare: E. Fraenkel, Aeschylus.
Agamemnon, Oxford 1950 (3 Bde). – J. D. Denniston & D. L. Page, Aeschylus.
Agamemnon, Oxford 1957. – A. F. Garvie, Aeschylus. Choephori, Oxford 1986. – A.
H. Sommerstein, Aeschylus. Eumenides, Cambridge 1989. –
Sekundärliteratur: M. Hose,
Aischylos’ Orestie – eine alte Geschichte neu erzählt, in: Ders., Meisterwerke
der antiken Literatur, München 2000, 34-53. – L. Käppel, Die Konstruktion der
Handlung der Orestie des Aischylos. Die Makrostruktur des „Plot“ als Sinnträger
in der Darstellung des Geschlechterfluchs, München 1998. – Ders., Der Fluch im
Haus des Atreus: Von Aischylos zu Eugene O’Neill, in: H. Hofmann (Hrsg.),
Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, 221-241. –
A. Bierl, Die Orestie des
Aischylos auf der modernen Bühne. Theoretische Konzeptionen und ihre szenische
Realisierung, Stuttgart 1997.
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24.
Oktober 2002
Prof. Dr. Klaus
Nickau
Sophokles (497-406/05 v.
Chr.) ist der im engeren Sinne klassische der drei großen attischen Tragiker.
Er habe, so etwa soll er gesagt haben, erst den Prunk des Aischylos und die Härten
seiner eigenen Kunst überwinden müssen, ehe er zu seinem die Charaktere genau
ausdrückenden Stile fand. Euripides, so zitiert ihn Aristoteles in der Poetik,
stelle die Menschen dar, wie sie sind, er aber, wie sie sein sollen. Sophokles
wisse, so urteilt schließlich ein antiker Biograph, den entscheidenden
Augenblick und die Handlungen so genau ins Verhältnis zu bringen, daß aus einem
kleinen Halbvers, ja aus einem einzelnen Wort eine ganze Person mit ihrem
Charakter hervorgehe.
Was macht die großen, so
klar gezeichneten Gestalten des Sophokles in einem besonderen Sinne zu
tragischen Helden? Was für ein Menschenbild liegt ihnen zugrunde? Was macht
ihre heldische Bewährung, was ihr tragisches Leiden aus? An zwei Tragödien, dem
relativ frühen Aias und dem erst in hohem Alter vom Dichter aufgeführten
Philoktet sollen diese Fragen erörtert werden.
Literaturempfehlungen:
Sophoclis fabulae, rec. H.
Lloyd‑Jones et N. G. Wilson, Oxford 1990 (krit. Ausgabe). – Sophokles,
Dramen, Griechisch und deutsch, hrsg. u. übers. von W. Willige, überarb. von K.
Bayer, München und Zürich 21985 [Tusculum; 1990 als Taschenbuch dtv
2252] (Leseausgabe). – Sophokles, Tragödien, hrsg. und mit einem Nachwort
versehen von W. Schadewaldt, Zürich 1968 u.ö. [Artemis] (nur Übers.). –
Einzelübersetzungen: Sophokles, Aias, R. Rauthe (Reclam UB 677); Philoktet, W.
Kuchenmüller (Reclam UB 709; beide Dramen auch bei Suhrkamp it 1562 und 2535).
– Zur Einführung: B. Zimmermann, Die griechische Tragödie, München und Zürich 21992.
– J. Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993. –
Speziell: K. Reinhardt, Sophokles, Frankfurt/M. 31949. – B. M. W.
Knox, The Heroic Temper, Berkeley 1964. – Chr. Meier, Die politische Kunst der
griechischen Tragödie, München 1988.
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31.
Oktober 2002
PD. Dr. Hans
Bernsdorff
Euripides: Anbruch der Moderne?
Unter
dem Namen des Euripides, des jüngsten der drei großen Tragödiendichter des
klassischen Athen (geb. zwischen 485 und 480, gestorben 406 v. Chr.), sind 18 Tragödien
und ein Satyrspiel überliefert, mehr Stücke als von Aischylos und Sophokles
zusammen. Das zeugt ebenso von seiner im 4. Jhd. v. Chr. einsetzenden
Popularität wie die zahlreichen durch Zitate bei späteren Autoren oder auf
Papyrus erhaltenen Bruchstücke, deren für die nahe Zukunft angekündigte Neuausgabe
zu den wichtigsten editorischen Unternehmungen der Gegenwarts-Gräzistik
gehört. Die Beliebtheit des Euripides zeigt sich auch in zahlreichen späteren
Adaptationen, vom hellenistischen und römischen bis zum neuzeitlichen Drama, in
dem die deutsche Klassik mit Goethes Iphigenie auf Tauris von 1796 einen
Höhepunkt darstellt.
Schon
von Zeitgenossen wie dem Komödiendichter Aristophanes, vor allem aber in der
Forschung nach dem Ersten Weltkrieg wurden bestimmte Züge des euripideischen
Werkes (z.B. das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, das Interesse für die
Abgründe der Seele, die Destruktion des Heroischen) als besonders modern
empfunden. Die Vorlesung fragt nach der Berechtigung solcher Einschätzungen,
indem sie zum Vergleich auf Konzeptionen der Modernität zurückgreift, wie sie
die Komparatistik herausgearbeitet hat.
Literaturempfehlungen: Textkritische Ausgabe von J. Diggle, Oxford
1981-1994. Griechisch-deutsche Gesamtausgabe (mit ausgewählten Fragmenten) mit
der Übersetzung von E. Buschor, hrsg. v. G. A. Seeck, München 1972-1981. – Zur
Einführung: B. Zimmermann, Die griechische Tragödie, 2. Auflage München 1992,
94-138.
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7.
November 2002
Prof.
Dr. Günther Patzig
Daß in Athen im fünften Jahrhundert (ca. 484-406 v. Chr.) drei
tragische Dichter vom Rang eines Aischylos, Sophokles oder Euripides auftraten,
ist ebenso unerklärlich wie die nur um einige Jahrzehnte versetzte Trias der
Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles (ca. 460-322 v. Chr.). Angesichts
dieser Konzentration von Genies mußten die Nachwelt die Texte besonders
fesseln, in denen die großen Denker auf die von den Tragikern geschaffenen
Werke mit theoretischen Reflexionen antworteten. Der Vortrag geht diesen
Begegnungen nach. Platon und Aristoteles in gleicher Weise in die Betrachtung
einzubeziehen, würde den Rahmen eines Vortrags sprengen. Der Akzent wird vor
allem auf Aristoteles liegen. Das ist schmerzlich, aber sachlich vertretbar:
Platon, in den beiden Textabschnitten (Res
publica II/III 376c-403c; X 595a-608b), in denen er seinen Sokrates über
Kunst, speziell Dichtung, sprechen läßt, zielt in der ersten Passage vor allem
auf die für die Erziehung der „Wächter“ bedeutsame pädagogisch-sittenbildende
Wirkung ab; in der späteren Partie des Staats
geht es um die ontologische Schwäche aller Kunst – „drittrangig, was die
Wahrheit betrifft“.
Aristoteles geht es in seiner kurzen Schrift De arte poetica – jenem nach Scaligers
berühmten Wort „aureum libellum“ – mehr um die begriffliche Erfassung der
eigentlichen Natur (‚Physis’) der Tragödie, die er als die höchste Form der
Dichtung ansieht, und, vor allem, um eine Erklärung der Wirkung der Tragödie
auf empfängliche Zuschauer (oder Hörer). Während bei Platon der zentrale
Begriff seiner Reflexion auf die Dichtung der der ‚Mimesis’ ist, steht im
Zentrum der aristotelischen Analyse der Begriff der ‚Katharsis’, der
‚Reinigung’ bzw. der ‚Befreiung’ von Affekten, speziell von den ‚tragischen
Affekten’ des Mitleids und der Furcht, oder, wie seit W. Schadewaldt manche
lieber wollen, des ‚Jammerns’ und des ‚Schauderns’.
Seit der Renaissance hat man die aristotelische, in Poetik 6, 1449 b 24-28 formulierte
These, die Tragödie bewirke mit ihren kunstgerechten Mitteln eine „Katharsis
der Leidenschaften“ und dadurch eine spezifisch tragische Lust, in
verschiedener Weise zu erklären versucht. Von großer Wirkung waren in
Deutschland die Stellungnahmen Lessings (Hamburgische
Dramaturgie 74.-83. Stück, 1767/68) und Goethes (Nachlese zu Aristoteles’ Poetik, 1827), die man wohl als, wenn
auch höchst produktive, Missverständnisse ansehen muß. Man sollte, wie es
allerdings auch in ähnlichen Kontroversen oft nicht geschieht, die beiden
Fragen auseinanderhalten: (a) „Was genau hat Aristoteles gemeint?“ (Hauptthema
der bisherigen Diskussion); und (b) „Hat Aristoteles mit seiner Auffassung
Recht?“ Die zweite Frage läßt sich wiederum in zwei Teilfragen gliedern: (b)1,
ob Aristoteles’ These auf die griechische Tragödie des 5. Jahrhunderts
zutrifft, und (b)2, ob er eine für tragische Dichtung als solche
allgemeingültige Kennzeichnung vorgelegt hat.
Literaturempfehlungen:
Platon, Res publica, gr. in Platonis Opera, ed. J. Burnet, OCT, Bd. IV, Oxford 1902 (zahreiche Nachdrucke). Dt.
Übersetzungen: Otto Apelt, Philosophische Bibliothek Bd. 80, Leipzig 1923,
Neudruck Hamburg 1988; K. Vretska, Stuttgart 1958. – Aristoteles, De arte poetica,
ed. R. Kassel, Oxford 1965. Org. u. dt., mit Anm. und Nachwort hg. v. M.
Fuhrmann, Stuttgart 1982, ²1994. – Zur Einführung: Artikel „Platon“ (J.
Timmermann), S. 631-640; „Aristoteles“ (Chr. Rapp), S. 23-35, in: J.
Nida-Rümelin u. M. Betzler: Ästhetik und Kunstphilosophie in
Einzeldarstellungen, Stuttgart 1998. – Artikel: „Mimesis“ (W. Erhart) S. II,
595-600; „Katharsis“ (C. Zeller) S. II, 249-252, in: H. Fricke u.a. (Hg.):
Reallexikon der dt. Literaturwissenschaft, Bd. II, Berlin, New York 2000. – A.
Schubert: Platon, Der Staat. Ein einführender Kommentar, UTB 1866, 1995, S.
150-164. – M. Luserke (Hg.): Die Aristotelische Katharsis, Hildesheim 1994.
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14.
November 2002
Prof.
Dr. Ulrich Schindel
Senecas Tragödien sind
die einzigen, die uns aus der reichen römischen Tragödienproduktion erhalten
sind. Und sie stammen aus einer Zeit, als die lebendige römische Theaterpraxis
sechs oder mehr Generationen zurücklag. Sind sie nun verspätete Solitäre oder
doch Zeugnisse einer ganz neuen Poetik, die mit den Kategorien aristotelischer
Dramen-Theorie nur noch wenig Berührung haben? Sind sie gar Lehrstücke der
stoischen Affektlehre und nur zum Lesen oder Vorlesen gedacht? Die Fachleute
haben sich seit den letzten sechzig Jahren sehr kontrovers zu diesen Fragen
geäußert. Eine Lösung bietet sich vielleicht, wenn man Senecas Tragödien vor
dem Hintergrund der zeitgleichen Deklamationen betrachtet, Musterreden, wie sie
in den zeitgenössischen Rhetorenschulen geübt wurden und wie sie Seneca
natürlich unter dem Einfluß seines Deklamationen-besessenen Vaters kannte und
in jungen Jahren geübt hatte. Mag ein eindeutiges Ergebnis auch vielleicht
nicht erreichbar sein, so lohnt es sich doch immer, die Werke eines Mannes in
die Hand zu nehmen, von dem gesagt wurde, daß er „der größte Vertreter einer
neuen, auf Schlagkraft, Pointierung und Knappheit, vielmehr einem ganzen Hagel
von Knappheiten bedachten Beredsamkeit ist, zweifellos der einzige, der es an
Geist und Bildung mit Cicero aufnehmen kann“ (W.H. Friedrich).
Literaturempfehlungen: Seneca, Oedipus, lat./dt. übers. u. hrsg.
v. K. Heldmann (Reclam) – Seneca, Medea, hrsg. u. übers. v. B.W. Häuptli
(Reclam) – Zur Einführung: Senecas Tragödien, hrsg. v. E. Lefèvre, Wege der
Forschung 310, Darmstadt 1972.
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21.
November 2002
Prof. Dr.
Heinz-Joachim Müllenbrock
Als Shakespeare sich dem
Tragödienschaffen zuwandte, konnte er auf keine in seinem kulturellen Umfeld
akzeptierte Theorie dieser Gattung zurückgreifen. Im elisabethanischen England
gab es als kleinsten gemeinsamen Nenner lediglich die generisch wenig präzise
Vorstellung vom Fall eines Großen. In dem Vortrag soll dargelegt werden, wie
Shakespeare, an dieses elementare Konzept anknüpfend, es zu einer komplexen
Auseinandersetzung mit den bis in ihre Tiefe ausgeloteten tragischen
Befindlichkeiten menschlicher Existenz ausweitete. Dabei sollen zwei
Fallstudien im Mittelpunkt stehen. Am Beispiel von Julius Caesar wird
aufgezeigt, wie dieses als politische Charaktertragödie zu interpretierende
Römerdrama bereits vollen tragischen Rang beanspruchen kann. Unter den
sogenannten großen Tragödien gehört die Aufmerksamkeit vor allem Macbeth; der Vortragende konzentriert sich auf das zentrale Problem der
in diesem Stück besonders heiklen Sympathielenkung: gelingt es Shakespeare,
seinem Protagonisten die für einen tragischen Helden notwendige Sympathie des
Publikums zu sichern? Alle näher zu kommentierenden Textpassagen werden sowohl
im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung ausgeben werden.
Literaturempfehlungen:
Gesamtausgabe:
The
Complete Works, ed.
Stanley Wells and Gary Taylor, Oxford 1998. – Kritische Einzelausgaben u.a. in
The Arden Shakespeare. – Übersetzungen (außer den klassischen
Übertragungen von Schlegel-Tieck): Julius Cäsar, zweisprachige Ausgabe.
Neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Günther, München 1998. – Macbeth, Englisch und Deutsch. Übersetzt
und herausgegeben von Barbara Rojahn-Deyk, Stuttgart 1996. – Sekundärliteratur:
Ulrich Suerbaum, Shakespeares Dramen Düsseldorf
1980. – Dieter Mehl, Die Tragödien
Shakespeares. Eine Einführung Berlin 1983. – Ina Schabert (Hg.), Shakespeare‑Handbuch. Die Zeit – Der
Mensch – Das Werk – Die
Nachwelt, Stuttgart 2000.
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28.
November 2002
Prof.
Dr. Manfred Engelbert
Überlegungen zum spanischen Welttheater
des Siglo de Oro
Feste Verankerung im
Katholizismus und konsequente Stilmischung sind zwei wesentliche Merkmale des
spanischen Theaters des 16. und 17. Jahrhunderts, die Lope de Vegas ‚neue
Kunst’ ebenso bestimmen wie Calderóns weltliche und geistliche Stücke. Sowohl
ästhetisch wie theologisch-ethisch scheint die Tragödie in der ‚comedia’ – so
die allgemeine Bezeichnung des Hauptprodukts für die Bühnen im Spanien der
Habsburger – also nicht ihren Ort zu haben. Auch ist behauptet worden, das
zeitgenössische Publikum sei eben nicht ‚tragisch aufgelegt’ gewesen. Dennoch
ist immer wieder von den Tragödien der großen Spanier gesprochen worden.
Der Vortrag wird
versuchen, eine Definition von Tragödie und Tragik zu geben, die ontologische wie
praktische Gesichtspunkte im historischen Kontext berücksichtigt. Tragik wird
dabei als Konzept erkennbar werden, mit dem sich unbewältigte, nicht als zu
bewältigend erscheinende gesellschaftliche Phänomene ästhetisch fassen lassen.
Literaturempfehlungen:
Manfred Tietz, „Das
Theater im Siglo de Oro“, in: Hans-Jörg Neuschäfer (Hg.), Spanische
Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 1997, 152-184. – Manfred Engelbert,
„Calderón de la Barca“, in: Klaus Pörtl (Hg.), Das Spanische Theater – Von den
Anfängen bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, 240-279.
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5.
Dezember 2002
PD
Dr. Dirk Niefanger
Wesentlich stärker als
das Theater der Nachbarländer war die deutsche Bühne des 17. Jahrhunderts durch
ihre Internationalität geprägt, insbesondere auch das barocke Trauerspiel. Das
liegt vor allem an der kulturellen und politischen Vielfalt des Heiligen
Römischen Reiches Deutscher Nation, an der dezentralen Ausrichtung seiner
Kultur und der spezifischen Konkurrenz zwischen den einzelnen Höfen und
Städten. Das fehlende Nationaltheater und die lange Orientierung am
lateinischen Humanismus haben ein eigenständiges und unabhängiges Theater lange
verhindert, waren aber nicht von Nachteil für seine Entwicklung; denn das
barocke Drama konnte sich, wie keine der Nachbarkulturen, auf die besten
Exempel dieser Gattung beziehen. In seinen unterschiedlichen Formen nimmt es
produktiv und spielerisch Aspekte des antiken, mittelalterlichen, englischen,
italienischen, spanischen, französischen und niederländischen Dramas auf.
Obwohl also ein deutschsprachiges Trauerspiel auf europäischem Niveau erst nach
Shakespeare, Calderon, Tasso oder Corneille, nämlich erst im 17. Jahrhundert
entsteht muß es als ein – zumindest von der heutigen Bühne verkannter – Meilenstein
des europäischen Theaters angesehen werden.
Im Vortrag werden
voraussichtlich (mit einem Seitenblick auf Shakespeare und das Drama der
französischen Klassik) Trauerspielformen der Wanderbühne, der Jesuiten und des
protestantischen Schultheaters (Gryphius, Lohenstein, Weise) behandelt. Viele
Texte von Bidermann, Gryphius, Hallmann, Lohenstein, Opitz und Weise sind bei
Reclam erschienen.
Literaturempfehlungen: Alexander, Robert J.: Das deutsche
Barockdrama, Stuttgart 1984. – Steinhagen, Harald (Hg.): Zwischen
Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. 1570-1740, in:
Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 3,
Reinbek 1985. – Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des
europäischen Theaters, Stuttgart, Weimar 1993 ff. – Kindermann, Heinz:
Theatergeschichte Europas. Bd. 3: Das Theater der Barockzeit, Salzburg 21967.
– Meier, Albert (Hg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts, München 1999. –
Niefanger, Dirk: Barock. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 2000. –
Niefanger, Dirk: Tragödie, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v.
Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Teil II: Rezeptions- und
Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15, Stuttgart, Weimar. [i.Dr.] – Schings,
Hans-Jürgen: Consolatio tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels, in:
Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen
Poetik des Dramas in Deutschland, Frankfurt 31980, 1-44.
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12.
Dezember 2002
Prof. Dr.
Hans-Günter Funke
Im nationalliterarischen
Selbstverständnis Frankreichs gilt die von Corneille und Racine repräsentierte Gattung
der regeltreuen Tragödie als die ästhetisch vollendetste Schöpfung des 17.
Jahrhunderts. Phèdre, Racines 1677 uraufgeführte Gestaltung des antiken
Phaedra-Hippolytos-Stoffes, gilt als sein Meisterwerk, ja als das beste Werk
der französischen Literatur schlechthin. Während Corneilles stoische Helden in
dem Konflikt zwischen Liebe und Pflicht sich mit eherner Willensstärke für die
Pflicht entscheiden, werden die sensibleren Helden Racines Opfer ihrer fatalen
Liebesleidenschaft. Unter Berufung auf das Vorbild der Antike – die Tragödien
von Euripides und Seneca – behandelt Racine die kühne Thematik der
ehebrecherischen und inzestuösen Liebe einer Königin, in der Absicht, die
tragische Bühne als eine „Schule der Tugend“ zu funktionalisieren. Der Vortrag
soll vor allem die folgenden Aspekte herausarbeiten: die Veränderung der
antiken Vorlagen durch die klassizistische Regelpoetik (doctrine classique), die strukturstiftende Parallelität des Kampfes
von Phèdre und Hippolyte um ihre moralische Integrität, die Merkmale der
griechischen Tragödie in „Phèdre“ (Präsenz der Götter, Götterfluch), endlich
die komplexe Schuldfrage: die schuldlos-schuldige Phèdre als Opfer des
Götterfluchs, die Deutung der Tragödie im Sinne des pessimistischen
Menschenbildes der christlich-jansenistischen Gnadenlehre.
Literaturempfehlungen: Jean Racine, Phèdre,
in: Œuvres complètes, Ed. R. Picard, Bd. I, S. 735-803, Paris 1969
(Bibliothèque de la Pléiade, 5). – Phädra.
Trauerspiel
von Racine, in: Schillers
Werke, Nationalausgabe, Bd. XV, Übersetzungen aus dem Französischen, Hrsg.
W. Hirdt, Weimar 1996, S. 275-387. – Jean Racine, Phèdre/Phädra. Tragédie en cinq
actes/Tragödie in fünf Aufzügen frz./dt., Hrsg. u. Übers.: Wolf Steinsieck,
Ditzingen, Reclam 1995. – Antoine Adam, Histoire
de la littérature française au XVIIe siècle, Bd. IV, Paris,
1968, S. 255-377. – Pierre Clarac, L’Age
classique, Bd. II, Paris 1969, S. 237-257 (Littérature française,
7). – René Bray, Formation de la doctrine
classique, Paris 1963.
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19.
Dezember 2002
Aus England kam die dramatische Form, die seit der
Mitte des 18. Jahrhunderts die Entwicklung der Tragödie in Deutschland
maßgeblich prägen sollte: das bürgerliche Trauerspiel. George Lillos The
London Merchant (1731) wurde zum Prototyp einer Gattung, die von Lessings Miß
Sara Sampson (1755) über Emilia Galotti (1772), Heinrich Leopold
Wagners Kindermörderin (1776) bis zu Schillers Kabale und Liebe
(1784) reicht und im 19. Jahrhundert u.a. mit Hebbels Maria Magdalena
(1844) oder Gerhart Hauptmanns Rose Bernd (1903) fortgeführt wird.
Thematisch und kompositorisch bricht das bürgerliche Trauerspiel mit den Gattungskonventionen
der Tragödie: nicht Haupt- und Staatsaktionen, nicht Ehr- und Normenkonflikte
von (adeligen) Standespersonen, sondern der scharfe Gegensatz zwischen
absolutistischer Willkür und bürgerlichem Tugendethos bestimmen das dramatische
Geschehen. In der moralisch-empfindsamen Integrität familialer Bindungen
erkennt man das Modell einer ursprünglichen und natürlichen Sozialordnung, die
indes nicht nur durch den Adel, sondern durch die Rigidität der
bürgerlich-familialen Normen selbst bedroht ist. Die neue Gattung liefert somit
nicht nur die Kritik an der höfisch-aristokratischen Lebensform, sondern auch
an deren Gegenentwurf, an der bürgerlichen Familie.
An ausgewählten
Beispielen (insbesondere Lessing und Schiller) wird der Vortrag die Entwicklung
der Gattung und den Wandel ihres zentralen Paradigmas nachzeichnen.
Literaturempfehlungen: Alle Texte liegen als Reclam-Ausgaben vor.
Zur einführenden Lektüre außerdem empfohlen: Karl S. Guthke: Das deutsche
bürgerliche Trauerspiel. Stuttgart 51994.
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9.
Januar 2003
Prof.
Dr. Werner Frick
Zur Bestimmung des Gemeinsamen der europäischen
Klassiken und Klassizismen hat die Forschung (W. Voßkamp, R. Koselleck) eine „Wiederholungsstruktur“
benannt, die sich insbesondere in zwei Merkmalen geltend mache: in einer
Tendenz zum genus sublime, zur erhöht-erhabenen Stillage, einerseits und
im Rückgriff auf antike Modelle, in der „Grundfigur des Mythos als Thema des
Dramas“, andererseits. Das gilt auch für die deutsche Literatur „um 1800“, und
es gilt in ausgezeichneter Weise für die antikisierenden Dramenexperimente, in
denen führende Autoren der Goethezeit (Wieland, Klinger, Ch. von Stein, Goethe,
Schiller, A.W. Schlegel, Hölderlin, Kleist) aus der produktiven und ‚agonalen’
Auseinandersetzung mit den attischen Tragikern, mit Aischylos, Sophokles und
Euripides, ein neues, zeitgemäßes Verständnis des Tragischen und der Tragödie
zu gewinnen suchen. Der Vortrag wird in einer tour d’horizon die
epochale Gemengelage solcher dramatischen Antikenexperimente vorstellen und
‚sortieren’, und er wird an den drei überragenden Paradigmen dieser littérature
au second degré (G. Genette) – an Goethes Iphigenie auf Tauris
(1779/87), Schillers Braut von Messina (1804) und Kleists Penthesilea
(1808) – die dramaturgische, ästhetische und geschichtsphilosophische
Spannweite wie den enormen Spannungsreichtum dieser (gleichsam in einer querelle
des anciens et des anciens miteinander rivalisierenden) Tragödienexperimente
zu erläutern suchen.
Literaturempfehlungen: Die drei zentralen
Bezugstexte sind in jeder Werkausgabe greifbar, am preiswertesten bei Reclam: Iphigenie
auf Tauris (RUB 83), Die Braut von Messina (RUB 60), Penthesilea
(RUB 1305). – Zur Einführung in den Gegenstandsbereich können dienen:
Rolf-Peter Carl: Sophokles und Shakespeare? Zur deutschen Tragödie um 1800. In:
Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik, hrsg. von K.O. Conrady, Stuttgart
1977, S. 296-318. – Werner Frick: „Ein echter Vorfechter für die Nachwelt“.
Kleists agonale Modernität – im Spiegel der Antike. In: Kleist-Jahrbuch 1995,
S. 44-96. – Ders.: Schiller und die Antike. In: Helmut Koopmann (Hg.):
Schiller-Handbuch, Stuttgart: Kröner, 1998, S. 91-116. – Kurt von Fritz: Antike
und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen, Berlin 1962.
– Martin Mueller: Children of Oedipus and other essays on the imitation of
Greek tragedy 1550-1800, Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press,
1980. – Uwe Petersen: Goethe und Euripides. Untersuchungen zur Euripides-Rezeption
in der Goethezeit, Heidelberg 1974. – Siegfried Streller: Antikerezeption und
Schicksalsproblematik. Der Versuch einer Erneuerung der antiken Tragödie. In:
Parallelen und Kontraste. Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in
Europa zwischen 1750 und 1850, hrsg. von H.-D. Dahnke, Berlin/Weimar 1983, S.
221-243. – Wilhelm Voßkamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und
Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990, Stuttgart/Weimar:
Metzler, 1993.
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16.
Januar 2003
Prof.
Dr. Reinhard Lauer
Infolge des in den
orthodoxen Ländern lange geltenden Theaterverbotes fand die dramatische Kunst
erst sehr spät Eingang nach Rußland. Nach mancherlei Anläufen wurde 1756 das
Russische Nationaltheater in St. Petersburg gegründet, in dessen Repertoire
fortan die Tragödie nach klassizistischem Zuschnitt (Racine, Gottsched) die
beherrschende Rolle innehatte. Die russischen Musterstücke lieferte schon seit
1747 A.P. Sumarokov; sie wurden recht schematisch bis ins 19. Jahrhundert
hinein nachgeahmt und fortgeführt. A.S. Puškin und einige Dichter aus seinem
Umkreis versuchten in den 1820er Jahren, die Tragödie im Sinne von Shakespeares
historical plays zu erneuern. Boris
Godunov wurde hier der exemplarische Text, der im 19. Jahrhundert nicht
wenige Nachfolger fand. Ein dritter Versuch, die Gattung diesmal im Rückgriff
auf die griechischen Tragiker zu beleben, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts
unternommen (Innokentij Annenskij, Vjačeslav Ivanov). Trotz dieser drei
bedeutsamen Ansätze hat die Tragödie in Rußland keinen bestimmenden Platz unter
den dramatischen Gattungen eingenommen, sondern bildete eher nur eine
Unterströmung hinter dem russischen Hauptstrom, der durch die dramatischen
Werke A.S. Griboedovs, N.V. Gogols, A.N. Ostrovskijs, A.P. Čechovs und M.
Gor’kijs gegeben ist.
Literaturempfehlungen: Reinhard Lauer: Geschichte der russischen
Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart. München 2000. – Russkie dramaturgi
XVIII-XIX vv. Monografičeskie očerki v trech tomach. Hrsg. von G.P.
Berdnikov u.a. Leningrad-Moskau 1959-1961. – Hans-Bernd Harder: Studien zur
Geschichte der russischen klassizistischen Tragödie 1747-1769. Wiesbaden 1962.
– E.P. Gorodeckij: Tragedija A.S. Puškina „Boris Godunov“. Leningrad 1969. –
Rolf-Dieter Kluge: Die Komposition des „Boris Godunov“. In: Serta Slavica: in
memoriam Aloisii Schmaus. Hrsg.
von Wolfgang Gesemann. München 1971, S. 342-354. – Armin Hetzer:
Vjačeslav Ivanovs Tragödie Tantal. Eine literarhistorische Interpretation.
Phil. Diss. Bonn 1972. – Vsevolod Setschkareff: Studies in the Life and
Work of Innokentij Annenskij. The Hague 1963.
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23. Januar 2003
Prof. Dr. Horst Turk
Tragödienphilosophien der Neuzeit
Nicht nur die Theorie des Tragischen, auch die
Theorie der Tragödie scheint seit den Anfängen bei Platon und Aristoteles eine
Domäne der philosophischen Ästhetik zu sein. Es gibt eine Soziologie des
Dramas, auch eine Semiotik des Komischen und der Komödie, jedoch – trotz
gewisser Ansätze bei Lukács, Nietzsche und Benjamin – keine Soziologie oder
Semiotik des Tragischen und der Tragödie: eine Zugangsweise, die neben dem
vertrauten Blick der Dramenpoetik allerdings auch den „fremden Blick“ der
Theaterästhetik vorausgesetzt hätte. Wir werden mithin bis zu einem gewissen
Grad genötigt sein, theoretisches Neuland zu betreten, wenn wir versuchen
wollen, Konstruktionsweisen von Tragik einschließlich ihrer philosophischen
Interpretation anhand von Tragödien und das heißt: tragödientheoretisch,
herauszuarbeiten. Beschreitbar ist zum einen der Weg der historischen
Einbettung von Kant, Hegel, Nietzsche und Benjamin in den Kontext der Aufklärung,
des Idealismus, des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20.
Jahrhunderts: traditionellerweise im Sinn des mangelnden Verständnisses für
ausweglose Konflikte, des geschichtsphilosophischen Ausgleichs derselben, der
Polarisierung unter diesem Vorzeichen, der Auflösung eines Paradigmas.
Beschreitbar ist zum anderen der Weg einer weniger interpretationsgeschichtlichen
als zeichengeschichtlichen Analyse auf philologischer – sowohl dramenpoetischer
wie auch theaterästhetischer – Grundlage. Tragödien, ob lebensweltlich oder
literarisch, basieren nicht auf einer metaphysischen Wesenheit, sondern die
Annahme einer solchen Wesenheit basiert auf Tragödien, womit wir uns, anders
als erwartet, doch wieder in der Nähe der Aristotelischen Poetik befinden.
Literaturempfehlungen: Zur vorbereitenden Lektüre empfohlen:
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1974, §
23-30, zur Analytik des Erhabenen. – Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Die Arten
der dramatischen Poesie und deren Hauptmomente“, in: Ders., Werke in zwanzig
Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 15: Vorlesungen über
die Ästhetik III, Frankfurt/M. 1973, S. 519-574. – Friedrich Nietzsche:
„Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessimismus“, in: Nietzsche Werke,
hg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Abt. III, Bd. 1, Berlin, New York
1972, S. 1-152. – Walter Benjamin: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in:
Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1.1, S. 203-430. – Literarisch kann die
Vorlesung an bereits behandelte Autoren anknüpfen (berührt werden vermutlich:
Sophokles, Antigone; Euripides, Iphigenie in Aulis; Shakespeare, Julius
Caesar; Goethe, Tasso; Schiller, Fiesko; Büchner, Danton;
Beckett, Endspiel). Zur Einführung und als Hintergrundfolie: Peter
Szondi: Versuch über das Tragische, Frankfurt/M. 21964.
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30.
Januar 2003
Prof.
Dr. Martin Staehelin
Manches, was das Musiktheater an ernsten Schöpfungen hervorgebracht hat, steht,
beinahe seit seinen Anfängen und dann über Jahrhunderte hin, im Banne der
großen Tragödie des Klassischen Altertums. Dies gilt schon für die frühe Oper
um 1600, ebenso für die typisierte spätbarocke Opera seria des 18. Jahrhunderts,
ja selbst noch für das Musikdrama Wagners, und dies, obwohl die Vertonungen,
die innerhalb solcher Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie entstehen,
wegen des zusätzlichen Mediums der Musik immer wieder Modifikationen,
Umgestaltungen, ja Mißverständnisse der tragischen Form und Textgrundlage
erfahren müssen. Da eine Gesamtgeschichte des ernsten Musiktheaters in einer
Einzelvorlesung nicht geboten werden soll und kann, wird es vor allem darum
gehen, jene Auseinandersetzung an wenigen, aber wichtigen musiktheatralischen
Konzeptionen und zugehörigen Werken anschaulich zu machen: die Namen, mit denen
sich dieses verbindet, sind diejenigen von Claudio Monteverdi, Christoph
Willibald Gluck und Richard Wagner.
Literaturempfehlungen: Jede
gute Darstellung der Musikgeschichte; aber auch die entsprechenden Artikel in Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG),
2. neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher; z.B.: ‚Dramma per musica’
(Opera seria), Sachteil, Bd. 2, Sp. 1452-1500; ‚Musikdrama’,
Sachteil, Bd. 6, Sp. 1182-1195; ‚Musiktheater’, Sachteil, Bd. 6,
Sp. 1670-1714; ‚Oper’, Sachteil, Bd. 7, Sp. 635-641; ‚Tragédie
lyrique – Tragédie en musique’, Sachteil, Bd. 9, Sp. 703-726.
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6.
Februar 2003
Prof.
Dr. Fritz Paul
Ist es tragisch, wenn eine Mutter sich überlegt, ob sie ihrem
geisteskranken erwachsenen Sohn das ,erlösende’ Gift geben oder ihn ein Leben
lang pflegen soll? So in Ibsens Gespenster. Aktuell ist es auf jeden
Fall. Stichworte: Euthanasie, Pflegefall. – Ist es tragisch, wenn eine
schwangere Hysterikerin sich in einer grotesk-theatralischen Szene in den Kopf
schießt, nachdem sich kurz zuvor ihr Verehrer in den Unterleib geschossen hat?
So in Ibsens Hedda Gabler. Aktuell ist es auf jeden Fall. Nicht nur in
der Welt der Soap-Operas. – Ist es tragisch, wenn ein Bankrotteur, der viele
Menschen ins Unglück gestürzt hat und dem jedes Unrechtsbewußtsein abgeht,
einen Herzinfarkt in eisiger Winternacht erleidet? So in Ibsens John Gabriel
Borkman. Aktuell ist es auf jeden Fall. Betrügerische Konkurse sind ebenso
an der Tagesordnung wie Herzinfarkte.
In der Vorlesung soll an drei Beispielen aufgezeigt werden,
wie Ibsen die klassische Tragödie verabschiedet, indem er eine neue „Tragik
des Alltags“ (Maurice Maeterlinck) entwickelt und dadurch zum Ahnvater des
modernen Dramas wird. So ist beispielsweise Frau Alvings Sohn Osvald in Gespenster
auf vielfältige Weise ,determiniert’. Ihm ist daher, wie so vielen anderen
Ibsenschen Figuren, wie auch seiner Mutter, jede Selbstbestimmung verwehrt, so
daß er als Nicht-Handelnder auch nicht mehr schuldig werden kann im Sinne der
klassischen Tragödie, sondern als Objekt seiner Familienbindung untragisch
zugrunde geht. – In Hedda Gabler gibt es zwar am Ende zwei Tote, aber Hedda
Gablers ganzer Lebensentwurf ist als Inszenierung ins Sinnlos-Groteske
entglitten, und der Text zeigt bei genauerer Lektüre eher eine Affinität zum
grotesken oder absurden Drama des 20. Jahrhunderts als zur klassischen
Tragödie. – In John Gabriel Borkman ist vor langer Zeit ein
gründerzeitlicher Potentat gestürzt, und die Fallhöhe ist groß. Borkman selbst
empfindet das ausschließlich als die Tragödie seines Lebens, da er in
egozentrischer Verblendung den Blick nur auf sich selbst richten und für andere
kein Mitgefühl empfinden kann. Er stürzt nicht mehr wie die großen Shakespeareschen
Helden in der Aura wahrhaftiger Tragik, sondern beigemischt sind in seinem
Charakterporträt Züge des Tragikomischen und Grotesken, Stilzüge und
Bedeutungsmuster, die das Motiv gerade für die Moderne handhabbar machen und
die erst in Inszenierungen unserer Tage (etwa von Luc Bondy) herausgearbeitet
wurden. Ein Seitenblick auf Strindberg erhärtet diese These.
Literaturempfehlungen: Die drei behandelten Gesellschaftsdramen
Ibsens sind bis heute im Repertoire des Welttheaters gegenwärtig und auch als
Reclam-Bändchen leicht zugänglich. Der Schwerpunkt der Ausführungen wird auf Gespenster
liegen: Henrik Ibsen: Gespenster. Ein Familiendrama
in drei Akten. Aus dem Norwegischen übersetzt von Heidi Krüger. Nachwort von
Aldo Keel. Stuttgart: 1999 (RUB 1828). – Henrik Ibsen: Hedda
Gabler. Schauspiel in vier Akten. Aus dem Norwegischen übersetzt von
Christel Hildebrandt. Nachwort von Helmut Bachmaier. Stuttgart: 2001 (RUB
2773). – Henrik Ibsen: John Gabriel Borkman.
Schauspiel. Aus dem Norwegischen von Hans Egon Gerlach. Nachwort von Gerhard
Reuter. Stuttgart: 1993 (RUB 8673).
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13.
Februar 2003
Prof. Dr. Fred
Lönker
Während Friedrich Nietzsche in seinen Anfängen noch von einer
Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geist der Wagnerschen Musik träumte, mehren
sich spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Stimmen, die eine
Wiedererweckung dieser Gattung für unmöglich hielten. Allenfalls über den Weg
einer Neufassung der antiken Vorbilder sei dies möglich, einer Neufassung
allerdings, die in die Stücke den Geist der Moderne legen müsse. Derselbe
Hofmannsthal, der eine solche ,Neuauflage‘ in der Elektra versucht,
schreibt denn auch 1921, die bürgerliche Welt als die Welt des bloß sozial
Bedingten sei tragödienuntauglich. Botho Strauß schließlich konstatiert, unsere
Unglücke seien „auf schmerzliche, beinahe brutale Weise untragisch“. Ein
Bedürfnis nach Selbsterhöhung sei es, das die Zeitgenossen nach Tragödien
verlangen lasse, der Wunsch, ein „großartiges Leidwesen“ zu sein. Gleichwohl –
das zeigte schon das Beispiel Hofmannsthals – wurden solche Stücke geschrieben,
sei es in der Tradition jener Antikenrezeption wie etwa Gerhart Hauptmanns
Atriden-Tetralogie, oder sei es – in gänzlich anderer Weise – Karl Kraus’
monströses Werk Die letzten Tage der Menschheit, in dem die Gattungsbezeichnung
Tragödie allerdings weniger die Form als vielmehr das Thema meint. Vollends zur
ironischen, aber darin bedeutungstragenden Folie wird sie in Brechts Die
heilige Johanna der Schlachthöfe, die zugleich Parodie und Travestie von
Schillers romantischer Tragödie ist, oder etwa in Dürrenmatts Stück Der
Besuch der alten Dame, bei dem man sich nur noch mit dem Begriff der
Tragikömödie behelfen kann. Die Vorlesung will an ausgewählten Beispielen den
Verfall, aber auch das Nachwirken einer ehemals ,klassischen‘ Gattung
demonstrieren.
Literaturempfehlungen: Zur Vorbereitung
empfiehlt sich die Lektüre von Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie,
oder: Griechentum und Pessimismus,
Ditzingen (Reclam) o.J. – Hugo von Hofmannsthal,
Elektra, Ditzingen (Reclam) 2001. – Bertolt Brecht, Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Bange 2002. – Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der alten
Dame, Zürich (Diogenes) 1998. – Botho
Strauß, Kalldewey. Farce, München (dtv) o.J.