Nachruf auf Prof. i. R. Dr. Manfred Karnick

Wer an Manfred Karnicks Seminaren teilnehmen konnte, hatte Glück, in mehrfachem Sinne. Kontinuierlich bot er am Deutschen Seminar in Göttingen Lehrveranstaltungen zu neuer und neuester deutschsprachiger Literatur an, auf hohem Reflexionsniveau und in fesselnden, auf produktive Kontroversen und Dialoge ausgerichteten Veranstaltungen. Kontinuierlich musste er sich eben deshalb eines Ansturms von Interessierten erwehren, der selbst seine Großzügigkeit auf eine harte Probe stellte. Derart nachgefragt waren seine Seminare, dass er sie bald auf den ungeliebten Freitag und dort wiederum schließlich auf die frühen Morgenstunden verlegen musste; nur wirklich Engagierte sollten diese Hürden überwinden. Es nützte wenig. Der Ansturm blieb groß und dauerhaft, und so musste Manfred Karnick sein beträchtliches didaktisches Geschick aufbieten, um auch in überfüllten Seminaren lebendige Diskussionen zu ermöglichen. Dass ihm das immer wieder gelang, trug zu seiner Beliebtheit unter den Studierenden bei, aber auch zu einer Arbeitsbelastung, die manchmal die Grenze des Zumutbaren erreichte.
Und es blieb nicht bei den Seminaren. Auch Manfred Karnicks Vorlesungen fanden eine große, anhängliche und begeisterte Hörerschaft. Dabei war es hier wie dort die Verbindung von überlegener Sachkenntnis und einer an Brecht‘scher Freundlichkeit geschulte Gelassenheit und Konzentration, die es zu einem Vergnügen machte, von ihm und mit ihm zu lernen. Der Literaturwissenschaftler, der seine Laufbahn selbst als Gymnasiallehrer begonnen und dann, nach seiner Promotion in Freiburg/Br. an die Universität übergewechselt war, war ein geborener Didaktiker. Dass literarische Modellierungen von Dialog, Kommunikation, Verständigung auch das große, durchgehende Thema seiner wissenschaftlichen Arbeiten wurde, ergab sich aus dieser Begabung fast von selbst. Mit Formen der Kommunikation – der Romanfiguren wie der unterschiedlichen Textsorten und Diskurse – in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre hatte sich seine Dissertation befasst; von dort aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur Beschäftigung mit dem Drama, das seit seiner Habilitationsschrift über Rollenspiel und Welttheater zu seinem Lebensthema wurde. Schon in diesem 1980 als Buch erschienenen Werk reichte der Spannungsbogen von Calderón über Schiller und Strindberg bis in die Moderne, zu den Antipoden Beckett und Brecht. Vor allem die in solcher Weise literarhistorisch fundierte Moderne in den denkbar unterschiedlichsten Facetten von Drama und Theater hörte nicht auf, ihn, seine Studierenden und seinen Doktorandenkreis zu faszinieren. Immer wieder kehrte er, forschend und lehrend, in August Strindbergs Theater-Laboratorium zurück, fragte er nach den Kontinuitäten und Brüchen dieser emphatischen Moderne im Verhältnis zur klassisch-romantischen Epoche. Immer neue Wege fand er von dort aus zu den experimentellen Theatertexten Peter Handkes, Thomas Bernhards und Elfriede Jelineks, Eugène Ionescos und Peter Weiss‘; mit nicht nachlassender Neugier erkundete er die Übergänge zwischen dramatischen Texten und Erzählprosa oder, wie bei Peter Weiss und Max Ernst, zwischen Formen und Wirkungsweisen der Collage in dramatischer und in bildkünstlerischer Hinsicht. Dass in Wilfried Barners großer Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart das Kapitel zur westdeutschen Erzählprosa nach 1945 von Manfred Karnick übernommen wurde, war nur folgerichtig.
Ein „Achtundsechziger“ war dieser Literaturwissenschaftler eigentlich nicht, auch wenn seine Promotion in ebendieses Jahr fiel. Dennoch hat er an der ideologiekritischen Aufgabe einer Literaturwissenschaft festgehalten, die er in einer auch gesellschaftlichen Verantwortung sah. Seine kritischen Beiträge zur nationalistischen Ideologisierung Luthers auf den deutschen Bühnen des 19. Jahrhunderts zeigen das ebenso mustergültig wie seine Studien zum „Schicksalsdrama“ oder – in einem vielbeachteten Vortrag beim Symposion zur Eröffnung des germanistischen Instituts an der Hebräischen Universität Jerusalem – zu jüdischen Gestalten in der westdeutschen Nachkriegsliteratur.
Im Jahr 1979 kam Manfred Karnick aus Freiburg ans Deutsche Seminar unserer Universität, zunächst als Vertreter Theo Bucks und dann Albrecht Schönes, seit 1982 als Professor für Neuere deutsche Literatur. Bis zu seinem krankheitshalber vorgezogenen Ruhestand 1996 entfaltete er hier – und bei Gastprofessuren auch an unseren Partnerinstituten in Illinois und Nanjing – seine Lehrtätigkeit. Niemand, der das Glück hatte, an seinen Vorlesungen und Seminaren teilzunehmen, wird das Glück dieses Lernens vergessen.

Heinrich Detering

Beruflicher Werdegang

Geb.1934 in Berlin. Schulen in Berlin-Zehlendorf, Danzig-Oliva, Icking/Oberbayern, Otterndorf/Niederelbe und Cuxhaven. Dort Abitur "unter Befreiung vom Mündlichen". 1954-1962 Studium in Hamburg und Freiburg: Deutsch, Geschichte, Philosophie. Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. 1962 Wissenschaftliche Prüfung für das Lehramt an Gymnasien. 1965-1967 Schuldienst in Bremen. 1966 Promotion an der Universität Freiburg. 1967 Pädagogische Prüfung für das Lehramt an Gymnasien. 1967-1982 Wissenschaftlicher Assistent, Akademischer Rat/Oberrat, Professor in Freiburg. 1977 Habilitation. 1979-1980 Vertretungen von Theo Buck und dann von Albrecht Schöne in Göttingen. 1982 Professor in Göttingen. 1983 ‚Keynote-address’ auf dem VI. Internationalen Strindberg-Kongress in Minneapolis MN. Teilnahme am deutsch-israelischen Symposion in Jerusalem. 1984-1990 Vorträge an Universitäten in USA und Kanada: in Madison WI, Amherst MA, Ann Arbor MI, St. Louis MO, PennState PA, Columbus OH, Los Angeles CA, Santa Barbara CA, Vancouver/ British Columbia. 1985 und 1990 Gastprofessur an der University of Illinois in Urbana-Champaign . 1988 Leitung einer niedersächsischen Schriftstellerdelegation in die Volksrepublik China, Vorträge in Beijing, Nanjing, Shanghai. 1994 Kurzzeitdozentur an der Universität Nanjing. 1996 Ruhestand.

Schwerpunkte


  • Struktur- und Motivgeschichte des Dramas
  • Nachkriegsprosa
  • Montage



Publikationen in Auswahl


  • Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Kunst des Mittelbaren. Studien zum Problem der Verständigung in Goethes Altersepoche. München 1968. (Dissertation)
  • Rollenspiel und Welttheater. Untersuchungen an Dramen Calderóns, Schillers, Strindbergs, Becketts und Brechts. München 1980. (Habilitationsschrift)
  • ‚Fructus germinis Lutheri’ oder Ehe und Unordnung. Über Themen der literarischen Lutherrezeption.In: Bernd Moeller (Hrsg.): Luther in der Neuzeit. Schriften des Vereine für Reformationsgeschichte 192. Gütersloh 1983. S.265-283. (Göttinger Antrittsvorlesung)
  • Die größere Hoffnung. Über ‚jüdisches Schicksal’ in deutscher Nachkriegsliteratur. In: Stéphane Moses und Albrecht Schöne (Hrsg.):Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposium. Frankfurt 1986. S.366-386.
  • Strindberg and the Tradition of Modernity. Structure of Drama and Experience. In: Göran Stockenström (Hrsg.): Strindberg’s Dramaturgy.Minneapolis: University of Minnesota Press 1988. S,59-74.- Deutsche Fassung in: Gerhard Buhr, Friedrich A. Kittler, Horst Turk (Hrsg.): Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser. Würzburg 1990.
  • Erzählprosa West: Nachkrieg. In: Wilfried Barner (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 1994. S.31-75. 2.erweiterte Aufl. 2006.
  • ‚Der Ritt über den Bodensee’ und die Ästhetische Montage. Max Ernst, Eugène Ionesco, Peter Handke. In: Geschichtserfahrung im Spiegel der Literatur. Festschrift für Jürgen Schröder. Hrsg. v. Cornelia Blasberg und Franz-Josef Deiters. Tübingen 2000. S.304-318.
  • Zum Heldentypus der verdeckten Überlegenheit. Homer, Karl May und Friedrich Schiller. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre. Hrsg. Lothar Bluhm u. Heinz Rölleke. 62. Jahrgang. 2012, Heft 1, S. 27-38.