Kunstwerk des Monats im September 2015
06. September 2015
Seit 250 Jahren in Göttingen: Die barocken Kaiserbüsten aus Hannover-Herrenhausen. Neues zum Ursprung der Sammlung der Gipsabgüsse
Vorgestellt von: Prof. Dr. Klaus Fittschen und Dr. Daniel Graepler
1714 bestieg Kurfürst Georg August als Georg I. den englischen Königsthron. Im Jahr danach erwarb er in Paris aus dem Nachlass Ludwigs XIV. eine Serie von Bronzebildnissen antiker Personen, meist römischer Kaiser, die im Galeriegebäude in Herrenhausen aufgestellt wurden. Sie galten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als echte antike Skulpturen. Ursprünglich waren es 26 Büsten, von denen jetzt aber nur noch 13 vorhanden sind: Die 26 Büsten waren von Napoleon nach der Besetzung Hannovers (1803) beschlagnahmt und nach Frankreich abtransportiert worden, 1814 gelangten nur 14 zurück; die anderen 12 müssen als verschollen gelten. Eine Büste, die des Kaisers Domitian, wurde 1982 gestohlen. Ludwig XIV. hatte die Bildnisse in Italien erworben, doch sind Einzelheiten nicht bekannt, auch nicht, wo sie hergestellt worden sind. In vielen Fällen handelt es sich um getreue Nachgüsse antiker Bildnisse. Es lässt sich zeigen, dass die Herrenhäuser Bildnisse keine geschlossene, einheitliche Serie bilden, dass sich darunter vielmehr auch Stücke befinden, die in anderen Werkstätten angefertigt worden sein müssen. Es lässt sich auch zeigen, dass ursprünglich, d. h. vor 1715, weit mehr Kaiserbildnisse vorhanden gewesen sein müssen, als Georg I. erwerben konnte.
Von den meisten Bildnissen lassen sich die antiken Vorbilder identifizieren; viele davon standen im 17. Jahrhundert in den berühmtesten Antikensammlungen der Stadt Rom. Im Vortrag wird das an einzelnen, ausgewählten Beispielen vorgeführt.
Kurz wird auch auf das Galeriegebäude eingegangen, in dem die Büsten 1715 Aufstellung fanden und das dem Publikum nahezu unbekannt ist. Es enthält den bedeutendsten barocken Freskenzyklus Norddeutschlands von der Hand des italienischen Malers Tommaso Giusti. Das Thema dieser Wandmalerei, Szenen aus der Aeneis, liefert einen passenden Rahmen für die dort aufgestellten antikisierenden Bildnisse.
Die Entstehung der Göttinger Abgusssammlung
Christian Gottlob Heyne, seit 1763 Professor der Poesie und Beredsamkeit an der Georg-August-Universität und Leiter der Universitäts-Bibliothek, erwarb Gipsabgüsse von 18 Bildnissen der Herrenhäuser Serie, darunter glücklicherweise auch von einigen der später verlorengegangenen Stücken, so dass eine Vorstellung von ihrem Aussehen möglich ist.
Seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts galt das Jahr 1767 als Gründungsdatum der Göttinger Abgusssammlung. Für die Geschichte der Archäologie ist dies insofern wichtig, als es sich um die bei weitem älteste Abgusssammlung an einer Universität handelt. Gipsabgüsse berühmter Skulpturen wurden bis dahin an Kunstakademien gesammelt, nicht aber an Universitäten.
Heyne war jedoch der erste, der die Beschäftigung mit antiker Kunst, insbesondere der Skulptur der Griechen und Römer, zum universitären Lehrgegenstand machte. Seit 1767 hielt er jeweils im Sommersemester eine Vorlesung über ?Das Studium der Antike?, in der er eine vorwiegend adlige Hörerschaft systematisch mit den Beständen der großen Antikensammlungen Europas, insbesondere in Rom, bekannt machte, um sie zu ?gelehrten Kennern? auszubilden und auf die Bildungsreise nach Italien vorzubereiten, die damals zur standesgemäßen Ausbildung eines jungen Adligen gehörte.
Bisher dachte man, Heyne habe anlässlich dieser Lehrveranstaltung, die großen Erfolg hatte und die er bis 1804 nahezu jährlich wiederholte, mit dem Ankauf von Gipsabgüssen begonnen, um sich bei seinen Ausführungen nicht nur auf Kupferstiche stützen zu müssen, sondern seinen Hörern auch dreidimensionale Anschauung von antiker Plastik verschaffen zu können.
Kürzlich erstmals ausgewertete Briefe Heynes an seinen Hannoveraner Bibliothekarskollegen Rudolf Erich Raspe haben jedoch ergeben, dass die Serie von 18 Abgüssen nach den Bronzen aus Herrenhausen bereits zwei Jahre früher, nämlich am 5. September 1765, also vor genau 250 Jahren, nach Göttingen geliefert wurde. Raspe hatte von Hannover aus den Transport organisiert.
Was der genaue Anlass für das Abgießen der Herrenhäuser Kaiserserie war, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Es besteht die Vermutung, dass der Herzog von Mecklenburg-Schwerin, der um 1765 die Abgussserie für seine Residenz Ludwigslust erwarb, der eigentliche Auftraggeber und Finanzier des Unternehmens gewesen sein könnte.