Kunstwerk des Monats im Dezember 2015
06. Dezember 2015
Friedrich Gilly und die Marienburg in Westpreußen
Vorgestellt von: PD Dr. Christian Scholl
Im Jahr 1794 besichtigte der damals 22-jährige Friedrich Gilly die Marienburg in Preußen. Er begleitete seinen Vater David Gilly auf einer Dienstreise, deren Ziel der Bau eines Speichers in Marienburg und eventuell auch der Abriss von Teilen der Burganlage war, um Ziegelmaterial zu gewinnen. Friedrich Gilly muss von der ehemaligen Ordensritterburg in hohem Maße fasziniert gewesen sein. Er fertigte Skizzen an und schuf daraufhin eine Folge von zehn Ansichten, die er 1795 auf der Berliner Akademieausstellung präsentierte. Die Zeichnungen erregten so großes Aufsehen, dass Friedrich Frick, ein Künstler aus dem direkten Umfeld Gillys, zwischen 1799 und 1803 eine Serie von neunzehn Aquatinta-Blättern herausgab, von denen ein großer Teil in der Göttinger Universitätskunstsammlung verwahrt wird. Viele dieser Blätter, die derzeit auf der Ausstellung "Gilly – Weinbrenner – Schinkel. Baukunst auf Papier zwischen Gotik und Klassizismus" zu sehen sind, greifen mehr oder weniger direkt auf Gillys Vorlagen zurück. Frick reiste aber noch einmal selbst in Begleitung des Architekten Ferdinand Rabe zur Marienburg, da "Herr Gilly nicht nur skizzirt, sondern auch aus seiner Fantasie zusammengesetzt hatte".
Tatsächlich verbinden sich in Gillys Zeichnungen Architekturanalyse und Imagination. Der Künstler entwickelte überaus suggestive Ansichten, die nicht nur die Gestalt der Burganlage anschaulich machen, sondern auch deren Historizität – etwa mittels Staffage – aufzeigen. Von vornherein hat der junge Architekt die doppelte Bedeutung der Marienburg als bemerkenswerter Architektur und als geschichtsgeladenem Ort wahrgenommen und zeichnerisch in Szene gesetzt. In Fricks Aquatinta-Serie, die zu den eindrucksvollsten Werken der Druckgraphik um 1800 gehört, wird diese Verbindung aufgegriffen.
Das besondere Geschick Gillys und auch Fricks lag demnach darin, das historische Potential der Marienburg als langjährigem Sitz des Hochmeisters des Deutschen Ordens aufzuzeigen. Dieses Potential war vor allem für die Regenten aus dem Hause Hohenzollern in Berlin nutzbar, die seit 1701 Könige in Preußen und seit 1772 Könige von Preußen waren und seither auch für die Geschicke der Anlage verantwortlich zeichneten. Gillys Zeichnungen und Fricks Aquatinta-Blätter hatten einen maßgeblichen Anteil, dass die Marienburg nach 1800 nicht abgerissen, sondern im Gegenteil zu einem preußischen "Nationaldenkmal" ausgebaut wurde. Als solches ließ sich die Burg in mehrfacher Hinsicht instrumentalisieren – etwa in den zu einem Kreuzzug stilisierten Befreiungskriegen gegen Napoleon, aber auch im zunehmend spannungsvollen Verhältnis zu Polen.
In der aktuellen Forschung besteht mitunter die Tendenz, eine solche Umdeutung der Marienburg erst nach Gillys Tod anzusetzen, um den geschätzten Künstler von Folgeproblemen zu entlasten. Demgegenüber lässt sich jedoch zeigen, dass bereits Gilly selbst die Verbindung von Architektur und Geschichtlichkeit mit Blick auf Brandenburg-Preußen herausgestellt hat, die einerseits zur Rettung der Marienburg führte, andererseits aber auch zu deren Instrumentalisierung. Insofern ist die Verbildlichung des Baukomplexes durch Gilly und Frick ein Musterbeispiel, wie Objekte aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit, deren Fortbestand zwischenzeitlich sogar auf dem Spiel stand, unter veränderten Umständen aktualisiert und politisiert werden können.