Konzept

Nicht nur das Ertrinken von zahlreichen Flüchtlingen im Mittelmeer, die Lage asiatischer Arbeits­migrant/innen in den Golfstaaten oder die tagtäglich zwischen Mexiko und dem Südwesten der Vereinigten Staaten Pendelnden verdeutlichen, dass noch nie weltweit so viele Menschen bereit, gezwungen oder in der Lage waren, ihren Arbeits- oder Lebensmittelpunkt zu verändern. Gleichwohl ist Migration nicht ausschließlich ein modernes Phänomen, sondern war schon immer eine zentrale Determinante in Prozessen der Hervorbringung und Wandlung von Gesellschaft: Die Geschichte der Menschheit lässt sich in der Tat als eine Geschichte der Wanderungen verstehen. Diese Wande­rungen bringen einerseits immer neue Grenzziehungen hervor, welche in territorialer, ethnischer, religiöser, kultureller, sozialer, ökonomischer oder sprachlicher Art regulierend, kontrollie­rend und mitunter gewaltsam einschränkend wirken. Zugleich problematisieren und verändern Migrations­bewegungen und -diskurse diese Grenzziehungen. Migrationsphänomene und Grenz­ziehungen bringen sich also wechselseitig hervor und können in dieser wechselseitigen Gebundenheit untersucht werden.

Ausgehend von diesen Überlegungen untersucht das Promotionsprogramm "Migrationsgesellschaftliche Grenzformationen" aus interdisziplinärer Perspektive Formierungsprozesse von (politischen, ethnischen, kulturellen, lingualen...) Grenzen in gegenwärtigen und historischen migra­tionsgesellschaftlichen Kontexten und fragt danach, wie dieses doing border zur Ausformung migra­tionsgesellschaftlicher Subjektpositionen (des "Migranten", der "Einheimischen" der "Inklusions­päda­gogin", des "Schleppers", der "Migrationsexpertin") beiträgt, und unter welchen Umständen es die Möglichkeitsräume jener Subjekte limitiert oder Potentiale zur Transgression bestehender migrations­gesellschaftlicher Ordnungen bereit hält. Dabei ist die Annahme grundlegend, dass die zur Rede stehenden Grenzen - bspw. auch die politisch verordneten territorialen - nicht einfach "da" sind, sondern auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen durch individuelle und kollektive Akteure diskursiv und performativ thematisiert, dadurch kontinuierlich neu und anders hervorgebracht, umkämpft, neu gezogen, umdefiniert werden und stets materiell erfahrbar sind. Diese historisch und kulturell situierten Praktiken der Grenzformation werden im Promotionsprogramm als wesentliches Moment der Erzeugung von migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitskontexten verstanden und können als solche analysiert werden.

Ziel des Promotionsprogramms ist die fächerübergreifende Untersuchung des Zusammenhangs zwischen situierten Praktiken von Akteur/innen (bspw. des Menschenhändlers, des Erziehers, der Ärztin einer Hilfsorganisation, der Familie, die als Familie mit Migrationshintergrund von Nachbarn und kommunaler Verwaltung adressiert wird und sich selbst so adressiert...), Institutionen und Strukturen (bspw. der Missionsstation, der Kirche, der Grenzpolizei, des Ausländeramts, des Heimatmuseums) in der Hervorbringung von Grenzformationen und der Konstitution von Zugehörig­keits­ordnungen in historischen und gegenwärtigen migrations­gesellschaftlichen Konstellationen. Durch eine differen­zierte Beschreibung und Theoretisierung analysiert das Programm diese komplexen, häufig aber unhinterfragt ablaufenden Zusammenhänge und leistet so auch einen Beitrag zur Methoden­entwicklung und -reflexion in der Migrationsforschung. Dazu integriert das Programm bereits etablierte und national wie international sichtbare Forschungen und Institutionen im Bereich der Migrations- und Grenzforschung an den Standorten Oldenburg, Göttingen und Osnabrück, schafft damit eine ideale Umgebung für die Bearbeitung interdisziplinär angelegter Promotionsvorhaben und trägt so wesentlich zur Stärkung und Weiterentwicklung eines regional, national und international bedeutsamen Forschungsschwerpunktes zu Migration in Niedersachsen bei.