Kunstwerk des Monats im Januar 2020
05. Januar 2020
Hans Veit Schnorr von Carolsfeld (1764-1841): „Der Tod des Sokrates“
Vorgestellt von: Prof. Dr. Michael Thimann
Der Tod des Sokrates war in der Kunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein beliebtes Bildthema, das seine wegweisende künstlerische Bewältigung in dem Gemälde von Jacques-Louis David von 1787 (New York, Metropolitan Museum) gefunden hatte. Das Bildthema stellt nicht nur die Historie einer berühmten Persönlichkeit der Antike dar, sondern ist ein philosophisches Denkbild mit paradigmatischen Implikationen der Spätaufklärung. Die Geschichte von Sokrates’ Sterben überliefert Platon im Phaidon. Sokrates wurde zur Kerkerhaft und zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt, da ihm Gottlosigkeit (Asebeia) und die Verführung der Athener Jugend vorgeworfen worden war. Sokrates schlägt die Gelegenheit zur Flucht aus und nimmt die verhängte Strafe an, einerseits, weil er das Gesetz achtet, andererseits, weil er mit dieser Entscheidung seinen freien Willen auch noch im Tode behauptet. Das Bildthema entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einer vielfigurigen Kerkerszene, bei der die beengende architektonische Situation des Kerkers als Folie für die Darstellung des durch Festigkeit des Geistes und der Seele ausgezeichneten Philosophen wirkungsvoll ausgenutzt wird. Der durch den Giftbecher sterbende Philosoph erscheint umringt von seinen Schülern, die mit starken Affekten und Gesten von tiefer Trauer und Erschütterung beklagen, ihren Lehrer nicht von seinem Vorsatz abbringen zu können. Dagegen sitzt Sokrates hochaufgerichtet auf dem kargen Kerkerbett und deklamiert ein letztes Mal seine Lehre. Die letzten Worte, die Sokrates auf den bildlichen Darstellungen deklamiert, werden mit der Rede von der Unsterblichkeit der Seele identifiziert.
Die Göttinger Zeichnung ist ein Historienbild mit dreizehn Figuren und einer vielschichtigen Handlung, wobei die Aktion des bildlichen Personals vor allem in der Reflexion und Trauer über den bevorstehenden Tod des Meisters besteht. Die Zeichnung ist mit der Zuschreibung an den Leipziger Maler Hans Veit Schnorr von Carolsfeld, dem Vater der weit bekannteren romantischen Künstler Ludwig Ferdinand und Julius Schnorr von Carolsfeld, in die Sammlung gelangt. Diese Zuschreibung ist durch eine ältere rückseitige Aufschrift bereits historisch vorgeformt. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass sich die Zuweisung des Blattes an Schnorr sowohl aus stilistischen wie auch aus dokumentarischen Gründen tatsächlich als zutreffend erweisen könnte.
Das entscheidende Problem bei der Zuschreibung ist die Tatsache, dass es sich nicht um eine eigenständige Komposition, sondern um eine Nachzeichnung handelt. Die Göttinger Zeichnung gibt ein Gemälde von Jean Francois Pierre Peyron (1744–1814) wieder, das in zwei Fassungen überliefert ist. Die sich heute im Statens Museum in Kopenhagen befindliche Fassung ist die vorbereitende Skizze für ein großes Gemälde, das sich heute Betrachtern unzugänglich in der Assemblée Nationale in Paris befindet. Peyrons Gemälde entstand im Auftrag des königlichen Hofes um 1786/87. Im Jahr 1787 wurde die Kopenhagener Fassung zusammen mit dem Gemälde Jacques-Louis Davids im Pariser Salon ausgestellt. Bei dieser Ausstellung unterlag Peyrons Version derjenigen Davids in der Gunst des Publikums, dennoch handelt es sich um eine der bedeutendsten Gestaltungen des philosophischen Bildthemas im vorrevolutionären Frankreich.
Betrachtet man nun die Göttinger Zeichnung genauer, so gibt es auffällige Unterschiede zum Gemälde. Neben auf der Zeichnung fehlenden Bilddetails wie den Ketten ist die expressive Geste des links auf zwei Steinquadern aufgestützten Jünglings im Gemälde verschwunden. Der entscheidende Eingriff betrifft aber die im Vordergrund liegende Gestalt eines Schülers, den man aufgrund der Physiognomie am ehesten mit Sokrates’ Meisterschüler Platon identifizieren möchte, auch wenn dieser dem Phaidon zufolge beim Tod des Meisters nicht zugegen war. Auch David hat die Figur Platons als ahistorisches Moment in seine Komposition eingefügt. Peyron drehte die Gestalt auf dem Gemälde, so dass sie sich als Rückenfigur präsentiert und ihren Affekt verbirgt. Aus diesen Beobachtungen folgt, dass das Göttinger Blatt in keinem Fall direkt nach dem Gemälde entstanden sein kann, sondern es sich um die Kopie einer Vorzeichnung handeln muss.
Bemerkenswert ist die Existenz einer vollständig ausgeführten Vorzeichnung, die den Charakter eines modello hat und sich in der Albertina in Wien befindet. Sie wird heute zutreffend als eine eigenhändige Zeichnung Peyrons in der Sammlung geführt, was der stilistische Vergleich mit seinen sicher zugeschriebenen Zeichnungen bestätigt. Die Wiener Zeichnung unterscheidet sich nicht im bildlichen Detail, aber im Zeichenstil wiederum deutlich von dem Göttinger Blatt: Das Wiener Blatt besitzt härter mit der Feder gezogene Konturlinien, ist kontrastreicher laviert und zudem deutlich größer. Beide Blätter sind von unterschiedlichen Händen gezeichnet worden. Es ist also unwahrscheinlich, dass das Göttinger Blatt eine weitere eigenhändige Zeichnung Peyrons ist.
Hans Veit Schnorr von Carolsfeld begab sich 1801 zusammen mit dem Dichter Johann Gottfried Seume auf eine Reise nach Italien, gelangte aber nur bis Wien, wo er Heinrich Friedrich Füger treffen wollte und die Gegebenheiten der Akademie inspizierte. Vor der Weiterreise nach Paris im April 1802 besuchte Schnorr auch ausgiebig die Zeichnungssammlung der Herzogs Albert von Sachsen-Teschen, worüber er im Neuen Teutschen Merkur berichtet: „Ich war so glücklich Zutritt in das unschätzbare Kabinet des Herzogs Albert zu haben, dessen Sammlung von Original-Handzeichnungen durchaus die einzige ihrer Art ist. Hier an dieser Quelle schöpfte ich unendliche Nahrung für meinen Geist.“
Dort befand sich vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt Peyrons Vorzeichnung, denn sie gehört nachweislich zum Altbestand der Albertina aus der herzoglichen Sammlung. Möglich also, dass Schnorr die Zeichnung dort sah und auch kopierte, denn das Göttinger Blatt ist eindeutig eine Kopie nach diesem Blatt, nicht aber nach dem Gemälde. Auch ist eine Kopie nach einer Druckgraphik ausgeschlossen: Nur Peyrons Gemälde – nicht die Handzeichnung – wurde seitenverkehrt als Radierung reproduziert. Wenn die Vorzeichnung schon von Herzog Albert erworben worden ist, könnte sie um 1802 bereits in Wien gewesen und dort von Schnorr studiert und kopiert worden sein.
Doch welche künstlerischen Indizien sprechen nun für eine Autorschaft Hans Veit Schnorr von Carolsfelds? Die mit Bister braun lavierte und weiß gehöhte Komposition, die zudem weitere Farbspuren aufweist, besitzt durchaus eine stilistische Ähnlichkeit zu Zeichnungen Schnorrs aus der Zeit um 1800. Bemerkenswert ist, dass 1827 aus der Leipziger Sammlung von Heinrich Wilhelm Campe ein Blatt Schnorrs mit dem Tod des Sokrates versteigert wurde, das mit der Göttinger Zeichnung Bildthema, Technik und auch die Maße gemeinsam hat: „Schnorr, v. K., H. V. Sokrates trinkt den Giftbecher. Compos. v. 13 Fig. auf braun Pap. schön mit Bister ausgeführt, weiss geh. H. 17 Z. 3 L. Br. 23 Z. 3 L. mit Goldl.“ Dieser Tod des Sokrates wird auch in Gottlieb Wilhelm Geysers Geschichte der Malerei in Leipzig von frühester Zeit bis zum Jahre 1813 (Leipzig 1858) als herausragendes Beispiel genannt für „nicht wenig grössere Kompositionen, und zwar meist mit Tusche oder Sepia, öfters mit leiser Farbandeutung“, die Schnorr neben Buchillustrationen als Zeichner ausgeführt hat. Es liegt also durchaus im Bereich des historisch Möglichen, das Göttinger Blatt mit der im 19. Jahrhundert noch bekannten Komposition Schnorrs zu identifizieren, gerade weil es sich im Zeichnerischen von den eigenhändigen Arbeiten Peyrons deutlich unterscheidet.
Hans Veit Schnorr von Carolsfeld
(Schneeberg 1764–1841 Leipzig)
Der Tod des Sokrates
Bleistift und Rötel, Feder in Braun, braun laviert mit Bister, weiß gehöht, 413 x 542 mm
Inv. Nr. H 1997/9
bez. verso mit Bleistift von fremder Hand: Tod des Sokrates von | Joh. Veith Schnorr von Carolsfeld. || [...] LG. | K[...] Ah. E. k. || EC / 75,-
Provenienz: vermutlich bis 1827 Sammlung Heinrich Wilhelm Campe (1771–1862), Leipzig (?) – unbekannt – 1997 Stiftung Hans Wille (1926–1998)