SAECULUM. Jahrbuch für Universalgeschichte
69. Jahrgang (2019), 2. Halbband
Beiträge
Benjamin Allgaier/Katharina Bolle/Nikolas Jaspert/Konrad Knauber/Ludger Lieb/Evelien Roels/Rebecca Sauer/Nele Schneidereit/Kirsten Wallenwein: Gedächtnis – Materialität – Schrift. Ein erinnerungskulturelles Modell zur Analyse schrifttragender ArtefakteIn der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung spielte die Materialität von Gedächtnismedien bislang eine eher untergeordnete Rolle. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher, die physische Beschaffenheit von Gedächtnismedien in den Blick zu nehmen. Unter Gedächtnismedien verstehen wir vor allem materiale Gedächtnisträger, d.h. alle Dinge, die Erinnerung auslösen, wobei es dabei nicht relevant ist, ob diese Funktion ursprünglich intendiert war oder nicht. Von besonderem Interesse sind für uns schrifttragende Gedächtnismedien, da diese gegenüber nichtbeschrifteten Dingen die Besonderheit aufweisen, dass die semantische Ebene des Textes und seine Rezeptionspraktiken den Gegenstand auf spezifische und zu untersuchende Art und Weise als gedächtnistragend ausweisen.
Gedächtnismedien sind eingebettet in ein Spannungsfeld zwischen ursprünglich intendierter Gedächtnisstiftung und gleichzeitig und/oder später an ihnen vollzogenen Rezeptionsvorgängen. Objekte können demzufolge „Gedächtnisbiographien“ durchlaufen, die sogar durch Phasen völligen Vergessens unterbrochen sein können. Eine adäquate Untersuchung von Gedächtnismedien muss also sowohl deren produktionsseitige als auch deren rezeptionsseitige Funktionalisierungen in den Blick nehmen.
Dieser Aufsatz wird sich zunächst einigen theoretischer Vorüberlegungen widmen, um diese dann anschließend anhand von Fallbeispielen aus unterschiedlichen Disziplinen durchzuarbeiten.
Michael Weichenhan: Panbabylonismus. Der „furor orientalis“, die Metrologie und die Suche nach der Harmonie der Welt
Der „Panbabylonismus“, eine Strömung der Altorientalistik am Anfang des 20. Jahrhunderts, postulierte die altbabylonische Kultur als den gemeinsamen Ausgangspunkt der Kultur der gesamten Menschheit. Er definierte somit am Beginn der Globalisierung ein den Erwartungen an eine normativ interpretierte Antike entsprechendes Altertum, das sich als älter als das der Griechen, Hebräer und Ägypter erweisen lassen und insofern über einen globalen Einfluss verfügen sollte. Im Zentrum des Aufsatzes steht die in diesem Sinne vorgenommene Rekonstruktion des babylonischen Maßsystems, von dem man annahm, dass es allen historischen Systemen zu Grunde liege, wobei als Vorzug gegenüber dem „système métrique“ seine natürliche Fundierung angesehen wurde. Davon ausgehend wird die Bedeutung des Sexagesimalsystems in den Blick genommen und der Panbabylonismus in zeitgenössische Strömungen eingeordnet, die gemeinsame Strukturen divergenter kultureller Überlieferungen in Gestalt von Zahlen, Maßen und astronomischen Größen fanden.
Joseph Lemberg: Wachstum denken im 13. Jahrhundert. Ökonomie, Mission und die sozionaturale Logik der Saatmetapher
Wie sprachen Menschen im 13. Jahrhundert über Wachstumsprozesse, die sich auf menschliches Handeln zurückführen lassen? Anhand dreier Problemfelder nimmt der Aufsatz mittelalterliche Konzipierungen anthropogenen Wachstums in den Blick: (1) die Wahrnehmung agrarischen Wachstums in konziliaren und grundherrlichen Quellen, (2) die Perzeption missionarischen Wachstums in Papsturkunden und bei den franziskanischen Theologen Bonaventura und Petrus Johannis Olivi, (3) die Deutung von Kapitalwachstum bei Olivi. Argumentiert wird, dass sich Menschen im 13. Jahrhundert über missionarisches und ökonomisches Wachstum mit ähnlichen semantischen und symbolischen Mitteln verständigten. In beiden Diskursen wurden Metaphern genutzt, die die sozionaturale Struktur vormodernen Handelns und Denkens stabilisierten. Ein Schlüsselbegriff war semen (Saat, Samen) bzw. seminare (sähen). Die Metapher der Saat oder des mehrenden Sämanns war eingebunden in das Bedingungsgefüge eines durch die Natur handelnden gnädigen Gottes. In dieser Engführung und Verflechtung menschlichen Mehrens und gottgegebenen natürlichen Gedeihens bestand die sozionaturale Logik des semen-zentrierten Wachstumsbegriffs. Er veranlasste seine Nutzer, Prozesse gesellschaftsrelevanten Wachsens – sei es Nahrungsmittelproduktion, Mission oder kommerzielle Tätigkeit – in einen überwölbenden Rahmen natürlich-göttlicher Kontingenz zu stellen.
Werner Kogge/Lisa Wilhelmi: Despot und (orientalische) Despotie – Brüche im Konzept von Aristoteles bis Montesquieu
Die Konzepte ‚Despot‘ und ‚Despotie‘ spielen nach wie vor eine gewichtige Rolle in Diskursen der politischen Theorie, insbesondere in Kontexten, in denen ein Ost-West-Gegensatz thematisiert wird. Wir setzen uns mit der Begriffsgeschichte dieser Konzepte in kritischer Absicht auseinander, indem wir uns gegen eine – wie wir es nennen – ‚Kontinuitätsthese‘ wenden, die unterstellt, dass das Konzept der orientalischen Despotie sich entlang einer kontinuierlichen Überlieferungsgeschichte der politischen Semantik bis auf Aristoteles zurückschreiben lässt.
Diese These, die vor allem zum Ausdruck kommt, wenn der Topos eines westlichen Selbstverständnisses durch Abgrenzung aufgerufen wird, stützt sich in vielen Fällen auf Richard Koebners maßgebliche Studie Despot and Despotism. Vicissitudes of a Political Term von 1951. Im Widerspruch zu der dort implizierten Kontinuitätsthese zeigen wir, dass es sich vielmehr um eine Kette von Transformationen und Brüchen handelt, indem wir entscheidende Stationen der Begriffsgeschichte rekonstruieren.
Erst infolge dieses Transformationsprozesses wurde es Charles de Secondat, Baron de Montesquieu möglich, das Konzept der ‚orientalischen Despotie‘ als neues politisches Instrument zu etablieren – ein Instrument, das er meisterhaft einzusetzen verstand und das den modernen Konzepten ‚Despot‘ und ‚Despotie‘ ihre spezifische Prägung gab.
In methodologischer Hinsicht wollen wir durch diese Gegendarstellung auch zeigen, warum und in welcher Weise es für Begriffsgeschichte erforderlich ist, die theoretischen Systematiken der Konzeptionen, in denen ein jeweiliges Konzept steht und Bedeutung erlangt, zu rekonstruieren und ins Verhältnis zueinander zu stellen.
Gebhard Löhr: Max Plancks ‚Weihnachtsartikel‘ (1930) – ein Schlüssel zu seiner Haltung zur Religion?
Max Planck wird gewöhnlich als Naturwissenschaftler, der dem Christentum nahestand und den christlichen Glauben mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild verbinden wollte, angesehen. Doch ein kurzer Artikel Plancks, der sogenannte ‚Weihnachtsartikel‘ von 1930, wirft erhebliche Zweifel an diesem Bild auf. In diesem Text entwirft Planck nämlich eine Lebensform, die allein der wissenschaftlichen Forschung gewidmet ist, als Alternative zu einer Existenz im christlichen Glauben. Planck weist nach, dass eine der Wissenschaft gewidmete Existenzweise alle Funktionen, die in einem konventionellen religiösen Leben der Glaube wahrnimmt, ebenso gut oder besser als dieser erfüllen kann. Damit kann der wissenschaftliche Glaube an die Stelle eines religiösen, z.B. des christlichen, Glaubens treten. – Die Beschreibung der wissenschaftlichen Existenzform durch Planck ermöglicht nun eine genauere Erfassung seines Daseinsverständnisses in den krisenhaften Umständen seiner Zeit (politische Radikalisierung, Weltwirtschaftskrise). Zugleich hilft sie, eines der großen Rätsel aus Plancks Leben, nämlich die Widersprüchlichkeit seiner Aussagen zur Religion in seinen letzten Lebensjahren, zu lösen. Diese erweisen sich als unterschiedliche Interpretationen eines und desselben Existenzverständnisses, das Planck in seinem Weihnachtsartikel entwickelt.