„Gemeinschaftsfremde“ und „Staatsfeinde“: Intergenerationale Handlungs- und Erinnerungsstrukturen in Familien stigmatisierter NS-Opfer in Österreich und Deutschland
Projektleiterin: Prof. Dr. Maria Pohn-Lauggas
Projektkoordination: Dr. Miriam Schäfer
Laufzeit: März 2021 bis Mai 2025
Finanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Projektnummer 442960441
In diesem Projekt werden Konstruktionsprozesse von Familiengedächtnissen und die intergenerationalen Folgen von Verfolgungserfahrungen von NS-Opfern und Überlebenden, die vor und nach 1945 sozial stigmatisiert wurden, untersucht.
Im Fokus stehen die Nachkommen der Menschen, die als „Gemeinschaftsfremde“ oder „Staatsfeinde“ der sogenannten NS-Volksgemeinschaft verfolgt, deportiert und ermordet wurden. In Rahmen dieses Projektes konzentrieren wir uns auf die Gruppierungen, die aufgrund sozialrassistischer Kategorisierungen als „Homosexuelle“ oder „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden, sowie auf Deserteure und die Zeugen Jehovas.
Ihre Erfahrungen wurden nicht Teil des deutschen und österreichischen kollektiven Gedächtnisses und blieben im öffentlichen Gedenken unsichtbar. Die Gründe hierfür sind in den verleugnenden öffentlichen Diskursen zu finden, in der auch nach 1945 fortbestehenden stigmatisierten sozialen Position der Betroffenen und nicht zuletzt im Fehlen von um Anerkennung kämpfenden Opfer- und Verfolgtengruppen. Auch die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich jahrzehntelang nicht für sie interessiert.
Was die Gruppierungen und ihre Erfahrungen aber unterscheidet, ist die Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe (Elias) wie etwa Verfolgten- und Überlebendenverbände. Die Zeugen Jehovas bilden als Religionsgemeinschaft eine solche Wir-Gruppe, während die als „Homosexuelle“, „Berufsverbrecher“ und Deserteure verfolgten keiner Wir-Gruppe angehörten und auch nach 1945 keine ausbildeten. Fehlt ein solche Wir-Gruppe kann kein (Gegen-)Gedächtnis ausgebildet werden Dies hat Auswirkungen auf die biographisch etablierten Handlungsstrukturen und intergenerationalen Erinnerungsstrukturen. Die empirische Klärung wie sich soziale Stigmatisierung, diskursive Unsichtbarkeit und Wir-Gruppen-Zugehörigkeit auf die Handlungs- und Erinnerungsstrukturen der Nachkommen der Opfergruppierungen auswirken, ist Ziel dieser Forschung.
Diesem Interesse soll auf Basis von biographisch-narrativen Interviews, Familiengesprächen und Diskursanalysen in einer Mehrgenerationen-Studie nachgegangen und die Strukturen verglichen werden. Dabei wird ein kontrastiver Vergleich von Gruppierungen in Österreich und in der Bundesrepublik angestrebt. Damit soll eine bestehende Lücke in der sozialwissenschaftlichen Mehrgenerationen-Forschung zu den Folgen des Nationalsozialismus in der deutschen und österreichischen Gegenwartsgesellschaft geschlossen werden, die sich bisher insbesondere mit Wirkungen in Täter/innen- und (meist jüdischen) Opfer- und Überlebendenfamilien beschäftigt hat.
Veröffentlichungen
Schäfer, Miriam (in Druck): Das vermeintliche Scheitern von narrativen Interviews. Zum Erkenntnispotenzial von Interviewdynamiken. In: BIOS - Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen.Pohn-Lauggas, Maria/Schäfer, Miriam (im Erscheinen): Soziale Bedingungen von Erinnern und Vergessen: Biographische und intergenerationale Dynamiken. In: BIOS - Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen.
Könecke, Sarah (2024): Erinnerungsstrukturen in Familien von als „asozial“ verfolgten Frauen. In: Oliver Gaida und Alyn Šišić (Heftverantwortliche): Im Zugriff von Fürsorge und Polizei. Erfahrungen sozialrassistischer Verfolgung im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung, Bd. 5. Wallstein-Verlag, Göttingen. S. 179-188.
Pohn-Lauggas, Maria (2023): „Dass Angst auch sein darf“: Desertion, innerfamiliale Gewalt und ihre Zusammenwirken in der Konstitution familialer Gedächtnisse. In: von Lingen, Kerstin/Pirker, Peter (Hrsg): Deserteure der Wehrmacht und der Waffen SS. Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung. Paderborn: Brill Schöningh. S. 319-326.
Pohn-Lauggas, Maria (2023): Vermittlung und Gedächtnis. Zur biographischen und intergenerationalen Weitergabe des Nicht-Erzählten. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2, S. 49-62.
Schäfer, Miriam/Pohn-Lauggas, Maria/Kranebitter, Andreas (2023): Als ›asozial‹ und ›kriminell‹ verfolgt, als ›Penner‹ und ›Verbrecher‹ erinnert: Zu den Auswirkungen tradierter Stigmatisierung auf Erinnerung und intergenerationale Handlungsstrukturen. In: Psychologie und Gesellschaftskritik 47, Heft 1/2, S. 35-56.
Pohn-Lauggas, Maria/Kranebitter, Andreas (2022): „Meine mundlmäßige Familie“. Zur Präsenz des Subproletarischen in Erinnerungen und Familienstrukturen von NS-Opfern. In: zeitgeschichte Jg. 49, Heft 4, 2022, S. 573-598.
Vorträge
Pohn-Lauggas, Maria/Schäfer, Miriam (2024): "Remebering, Forgetting and Remembering Again. How To Approach Forgetting Theoretically and Methodologically" auf der Tagung “Biographical Research Quo Vadis?” des RC38 Biography and Society der International Sociological Association in Budapest, 04.09.-06.09.2024.Schäfer, Miriam (2024): "Intergenerational Effects of Nazi Persecution on the Body and Health" auf der Tagung “Biographical Research Quo Vadis?” des RC38 Biography and Society der International Sociological Association in Budapest, 04.09.-06.09.2024.
Könecke, Sarah (2024): „Social Advancement in Families Persecuted and Stigmatized as So-Called ‘Asocials’” auf der Tagung “Biographical Research Quo Vadis?” des RC38 Biography and Society der International Sociological Association in Budapest, 04.09.-06.09.2024.
Pohn-Lauggas, Maria/Könecke, Sarah:„‘Sie haben ihn als alles Mögliche bezeichnet, als Querulant‘: Familiengedächtnisse von Familien als homosexuell verfolgter Männer“. 14. Dialogforum zu „„Queere Lagergeschichte(n) – Erinnerungen, Diskurse, Kontinuitäten“ der KZ-Gedenkstätte Mauthausen in Wien, 29.-30. September 2023. Der Vortrag ist Online abrufbar.
Schäfer, Miriam/Könecke Sarah (2023): “The simultaneity of persecution and perpetration - (Competing) memories of the German National Socialist past in families of stigmatized victims”. XX. ISA World Congress of Sociology in Melbourne, Australien/digital, 27. Juni 2023.
Pohn-Lauggas, Maria/Schäfer, Miriam (2023): “Of glue dots and familial relationships: Reflections on family sculptures in biographical multigenerational research.” XX. ISA World Congress of Sociology in Melbourne, Australien/digital, 26. Juni 2023.
Könecke, Sarah (2022): „Kontinuitäten eines Stigmas? Transgenerationale Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung als „asozial“ und „kriminell“ verfolgter Frauen“. Tagung „Fürsorgepolitik und "Sozialrassismus" im Nationalsozialismus“ der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer des NS-Verbrechen sowie Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in Hamburg, 06.-07.Oktober 2022.
Schäfer, Miriam/Könecke, Sarah (2022): "Schweigen und Sprechen über die verfolgten Vorfahren – Biographische, familien-dynamische und kollektive Prozesse der Erinnerung an stigmatisierte Opfer des Nationalsozialismus". 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Bielefeld, 30. September 2022.
Pohn-Lauggas, Maria (2022): Erinnerungspraxis und kollektives Gedächtnis. Wenn die Familiengeschichte nicht erinnert werden darf: Zur Bedeutung kollektiver Gedächtnisse für die Nachkommen von stigmatisierten NS-Verfolgtengruppierungen. Tagung "partizipativ.erinnern - Praktiken, Forschung, Diskurse" in Koblenz, 23. September 2022.
Pohn-Lauggas, Maria (2021): Deserteure im Familiengedächtnis. Tagung "Wehrmachstdeserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und (digitaler) Gedächtnisbildung" vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruch in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, 16.-18. September 2021.