Kunstwerk des Monats Dezember

03. Dezember 2023
Der Mensch als "homo viator" in Salomon van Ruysdaels "Landschaft mit Reisewagen" (1660)
Vorgestellt von Swantje Hopp (Göttingen)


GG 074(1)

Salomon van Ruysdael
Ein Meisterwerk Salomon van Ruysdaels, des eher unbekannten Onkels von Jacob van Ruisdael, bewahrt die Kunstsammlung der Göttinger Universität. Dabei mag einem leicht entgehen, welche Bedeutung dieses Werk sowohl in künstlerischer wie inhaltlicher Hinsicht besitzt.


Salomon van Ruysdael, Landschaft mit Reisewagen, 1660, 50,5 x 69 cm, Öl auf Holz,
Kunstsammlung der Universität Göttingen (Inv.nr.: GG 074)

Uns zeigt sich eine niederländische Landschaft, in der eine Reisegesellschaft zu sehen ist, die auf zwei Reisewägen in Richtung einer kleinen Stadt fahren. Die Bewegungsrichtung der Reisenden aufgreifend, neigen sich die Bäume am linken Bildrand nach rechts. Ihr Zielpunkt liegt in der hoch aufragenden Kathedrale, die die Stadt überragt. Doch beinhaltet das Bild nur dies: einige Menschen auf einer Reise in einer typisch niederländischen Landschaft mit Kühen und Tümpeln?
Berücksichtigt man eine vielfach anzutreffende sinnbildliche Bedeutung in der Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden, zeigt sich uns mehr als nur reine Wirklichkeitswiedergabe. Die Menschen dachten in Allegorien, sie schrieben ihre Lyrik moralisierend und mit biblischen Bezügen. Der Aufschwung der Emblembücher und ihr Wiederschein in der Malerei sind sichere Beweise für ein Denken der Menschen in Sinnbildern. Das Göttinger Bild in seiner möglichen Symbolik zu betrachten, liegt daher nahe.
In Ruysdaels Bild tritt uns dann der Mensch als homo viator vor Augen: Der Mensch auf seiner Lebensreise zu Gott. Die Kathedrale als Ziel steht für das Himmlische Jerusalem. „Denn auf der Erde gibt es keine Stadt, in der wir bleiben können. Wir sind unterwegs zu der Stadt, die kommen wird.“ (Hebr 13, 14)
Doch der Mensch als homo viator ist nicht nur auf der Reise, sondern befindet sich stets in einer andachtsvollen Betrachtung der gottgeschaffenen Welt bzw. Natur. Ruysdael schafft es meisterhaft, dies zu veranschaulichen. Die Natur greift die Bewegungsrichtung des homo viator auf, während die Wolken die Stellung der Kirche potenzieren: die Natur als Spiegel der sinnbildlichen Reise zu Gott.
Ruysdael malte keine Schlachtszenen, keine dramatischen Geschehnisse, sondern naturalistisch eine Wirklichkeit, die keine geografische Genauigkeit aufweist, sondern die Schöpfung Gottes, seine Spuren in allen Dingen der Welt, darstellt, in die sich der Mensch einfügt und in der er sich bewegt. Der Großzügigkeit und Freigebigkeit des mennonitischen Künstlers nach zu urteilen, war das auch sein eigenes Lebensziel: die imitatio Christi als homo viator, die Nachfolge Christi als Mensch auf der Reise zu Gott.