Göttinger Tageblatt vom 16. November 2006

Kritik an Bevormundung und Entmündigung
Zentrum für Medizinrecht: Perspektiven Thema der Gründungsveranstaltung

Mit einer Festveranstaltung unter dem Titel "Perspektiven des Medizinrechts" hat das Göttinger Zentrum für Medizinrecht seine Gründung im vergangenen Wintersemester gefeiert. In vier Vorträgen beleuchteten Experten unterschiedliche Aspekte des fachübergreifenden Themas.

Bei der Geburt eines Kindes wünsche man den Eltern alles Gute, eröffnete Prof. Gunnar Duttge, Geschäftsführender Direktor des Zentrums, den Abend. Jedoch laufe der Sprößling bereits - und er bringe gleichsam einen Aufbruch in Forschung und Lehre mit sich. Extrem breit gefächert sei das Aufgabenspektrum, das sich vor der neuen Einrichtung auftue: Fragen der Biomedizin und Stammzellenforschung, die Arzneimittelversorgung und der Umgang mit genetischen Daten, wie auch die Spannungsfelder einer "ökonomisch beherrschten Medizin". Dies sei eine Herausforderung, so Duttge - Ehrgeiz werde bei der Bewältigung nützlich sein, ebenso eine Förderung durch Dritte.
Doch könne das Zentrum auf einer 25-jährigen Tradition aufbauen, namentlich der "Abteilung für Arzt- und Arzneimittelrecht" der Fakultät, die von den Professoren Hans-Ludwig Schreiber, Erwin Deutsch und Fritz Scheler (Medizin) geleitet wurde. Sie hätten Grundlegendes geschaffen, das Fach maßgeblich in Deutschland etabliert.
Die Zeiten, in der sich Juristen und Mediziner in "Schützengrabenmentalität" gegenüber gestanden hätten, seien nun vorbei, so Duttge abschließend. Es habe die Zeit begonnen, in der alle auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten.
Auf die Interdisziplinarität, mehr noch als auf das fächerübergreifende Moment des Zentrums, verwies Universitätspräsident Prof. Kurt von Figura. Er verspreche sich von dem Zentrum nicht nur das Schaffen von Wissen, sondern dessen Weitergabe und eine Bereicherung des Lehrangebots. Dekan Prof. Volker Lipp, hob den Stellenwert des Zentrums innerhalb der juristischen Fakultät hervor: immerhin sei ein Viertel des Lehrpersonals an dessen Arbeit beteiligt. Der Dekan der medizinischen Fakultät, Prof. Cornelius Frömmel, verwies darauf, dass die Medizin der Zukunft Möglichkeiten haben werde, die die heutigen weit übersteigen werden - und je mehr Freiheit und Möglichkeit zunähmen, umso mehr Stellenwert habe auch das Recht.
Im ersten Festvortrag erläuterte Prof. Thomas Wagenitz, Richter am Bundesgerichtshof, das Problem der "Selbstbestimmung am Lebensende" nach den bestehenden Gesetzen - so sei es gegenwärtig etwa nur schwer möglich, einem Patientenwillen gerecht zu werden, ohne Ärzte, Bevollmächtigte oder Betreuer in Konfliktsituationen zu bringen. Er plädierte für die Einrichtung medizinisch-ethischer Konsilien, die (ähnlich denen bei Transplantationen) Entscheidungskriterien entwickeln, um Konflikte für Beteiligte zu vermeiden.

Regelungswut
Über das "Sozialrecht als Kostenkontrolle im Gesundheitswesen?" sprach Prof. Christian Dierks, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht. So sei das Sozialgesetzbuch, das grundlegend die Anspruchsgrundlagen und Vertragsbeziehungen zwischen Versicherten und Versicherern regele, zu einem undurchsichtigen Werk mutiert, das benutzt werde, um Ärzte zu bevormunden und Patienten entmündige. Durch "unsinnige" und teils "verfassungswidrige Regelungen" werde das Vertrauen des Bürgers in den Rechtsstaat zerstört, so Dierks. Er forderte ein Mitbestimmungsrecht der Patienten in einigen Bereichen der Regel-Festlegungen.
Ein drastisches, ihr von einem Pfarrer zugetragenes Beispiel über die Unzulänglichkeit der geltenden Gesetze zur postmortalen Entnahme von Gewebe brachte Prof. Brigitte Tag, Uni Zürich, vor: "Der Schmerz der Mutter, deren 18-jährige Tochter den Kampf mit der tödlichen Krankheit verloren hat, ist groß. Er ist größer, wenn sie iher Kind, dass zu Lebzeiten seine langen blonden Haare mit Liebe pflegte, kahl geschoren und ohne Gehirn, aber dafür mit offener Gehirnschale im Sarg vorfindet." Bislang fielen vom Körper getrennte Substanzen, von Lebenden woe Toten, unter die Regelungen für Sachen, seien persönlichkeitsrechtlich nicht zweifelsohne geschützt. Gleiches gelte für die Weiterverwendung von Untersuchungsergebnissen in Biodatenbanken - der "gläserne Mensch" sei keine Fiktion mehr, der Gesetzgeber zum Handeln dringend aufgefordert, so Tag.
Aus der Sicht der Ärzteschaft fasste Dr. Ottmar Kloiber, Generalsekretär des Weltärztebundes, den Abend zusammen. Er forderte für seinen Stand die Möglichkeit zur freien, sicheren Betätigung (Rechtsgrundlagen, Arbeitszeiten) und Stärkung der ärztlichen Autonomie - bislang seien Ärzte oftmals nur "weisungsgebundene Vollstreckungstechniker". Ohne diese Grundlagen werde sich der Exodus deutscher Ärzte ins Ausland verstärkt fortsetzen.
Gero Franitza