Die Göttinger Erklärung 1957
1957 brachte ein Ereignis von politischer und moralischer Bedeutung den Namen Göttingens schlagartig weltweit in die Schlagzeilen: die am 12. April des Jahres veröffentlichte „Göttinger Erklärung“. Die Mitte der fünfziger Jahre unter der Bezeichnung „Umrüstung“ betriebene Ausstattung der US-Truppen mit taktischen Atomwaffen führte im Laufe des Jahres 1956 in der Bundesrepublik zu einer immer heftiger werdenden Diskussion über ähnliche Pläne in der neugegründeten Bundeswehr. Die Befürchtungen, die sich damit verbanden, verstärkten sich durch die Ernennung des bisherigen Atomministers Franz Josef Strauß zum Verteidigungsminister. Der Versuch der im „Arbeitskreis Kernphysik“ der Deutschen Atomkommission zusammengeschlossenen deutschen Kernphysiker, darunter Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker, im Gespräch mit Strauß das Vorhaben zu verhindern, musste als gescheitert gelten, als am 5. April 1957 Bundeskanzler Konrad Adenauer in einer Presseerklärung taktische Atomwaffen als „besondere normale Waffen“ verharmloste.
Auf Anregung Weizsäckers, der auch der Hauptverfasser war, verabschiedete daraufhin der Ausschuss „Kernphysik“ der Deutschen Physikalischen Gesellschaft eine Erklärung, die zunächst von 18 Atomwissenschaftlern – neben Weizsäcker u. a. die ehemaligen oder gegenwärtigen Göttinger Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue und Wolfgang Paul – unterzeichnet wurde. Aufgrund ihres Fachwissens wiesen sie die verharmlosende Darstellung der Bundesregierung zurück und forderten eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren von Atomwaffen. Die Regierung wurde aufgefordert, auf eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu verzichten, um die Menschen in der Bundesrepublik nicht noch weiter zu gefährden. Die Unterzeichner lehnten jede Mitarbeit an der atomaren Bewaffnung ab, sprachen sich zugleich aber ausdrücklich für die friedliche Nutzung der Kernenergie aus.
Diese „Göttinger Erklärung“ stieß auf ein weltweites Echo, und auch in Göttingen blieben lokale Reaktionen nicht aus. Der Studentenrat der Georgia Augusta solidarisierte sich mit den Forderungen der Wissenschaftler, und die Göttinger Ortsgruppe des Deutschen Akademikerinnenbundes veröffentlichte einen ähnlichen Aufruf. Die lokale Presse berichtete ausführlich. Bürger und Kommunalpolitik allerdings blieben auffallend stumm, weder Rat noch Verwaltungsausschuss nahmen Stellung, es kam zu keinen Demonstrationen oder sonstigen öffentlichen Kundgebungen. Ähnlich wie genau 120 Jahre zuvor beim Protest der „Göttinger Sieben“ blieb die Stadt eigentümlich unberührt von einem universitären Protest, der ihren Namen überall in der Welt bekannt machte. Ein Grund für dieses Schweigen mag darin liegen, dass es um eine Frage der damaligen bundes- ja weltpolitischen Tagesordnung, aus der man sich – zumal angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl – mit dem Verweis auf die „kommunalpolitische Neutralität“ heraushalten wollte. Die „Göttinger Erklärung“ hatte Signalwirkung für die „Kampf dem Atomtod“-Bewegung, die im folgenden Jahr die gesamte Bundesrepublik erfasste.
(Böhme, Ernst: Zwischen Restauration und Rebellion. Die Georgia Augusta und die politische Kultur Göttingens in den fünfziger Jahren, demnächst in: Göttinger Jahrbuch 2005; Friedensinitiative Garchinger Naturwissenschaftler (Bearb.): 30 Jahre Göttinger Erklärung. Nachdenken über die Rolle des Wissenschaftlers in der Gesellschaft (Schriftenreihe Wissenschaft und Frieden 11), München 1987)