Mit Plinius im antiken Rom: Ein internationales Digital Mapping Projekt

Lehrprojekt im WiSe 2020/2021 in Kooperation mit der Abteilung Alte Geschichte der Universität Kassel und dem Institute for the History of Ancient Civilization der Northeast-Normal-University, Changchun (China)

Leitung und Durchführung: Elisabeth Günther (Göttingen) und Sven Günther (Changchun/Kassel)


Die um 77 n.Chr. verfasste Naturgeschichte (naturalis historia) des Gaius Plinius Secundus, auch Plinius der Ältere genannt, ist nicht nur eine faszinierende Enzyklopädie antiken Wissens, die vielen altertumswissenschaftlichen Disziplinen als Quelle dient. Sie ist auch ein Stück Geschichtsschreibung. Denn Plinius arrangiert und verbindet geschickt bestimmte Personen, Ereignisse, Geschichte(n) und Orte, um moralische, politische und gesellschaftliche Diskurse der Römischen Kaiserzeit zu spiegeln, und bezieht so Stellung zu diesen. Buch 36, das sich der Beschaffenheit von Steinen und innerhalb dessen den antiken Kunstwerken aus Stein und deren Künstlern widmet, ist hierfür ein Paradebeispiel: Hier werden einerseits die antiken Kunstwerke beschrieben – was eine wichtige literarische Quelle für die Klassische Archäologie darstellt –, diese andererseits aber auch mit dem Aufstellungsort in Rom (oder anderen Plätzen) und dem jeweiligen Aufsteller bzw. „Beschaffer“ in Beziehung gesetzt. Plinius der Ältere erschafft somit ein fiktives Rom als Erinnerungsort und lenkt die zeitgenössischen Leser, die sich nach dem Ende der julisch-claudischen Dynastie sowie den blutigen Bürgerkriegen des Vier-Kaiser-Jahres mit der neu etablierten flavischen Dynastie arrangieren mussten, zu semantisch aufgeladenen, vielfach neuralgischen Punkten der Kaiserzeit.

Ziel des Projektseminars im Wintersemester 2021/22 war es zu diskutieren, inwieweit man von einem semantic mapping seitens Plinius sprechen kann und wie man den vielfältigen politischen, sozialen, rechtlichen, wirtschaftlichen wie religiösen Ordnungsrahmen in ausgewählten Abschnitten des 36. Buches der Naturalis Historia nachspüren und diese visualisieren kann. Zentral hierfür war das Anlegen einer interaktiven Karte über das Tool OMEKA, die in eine Onlineausstellung eingebettet wurde.

Die Veranstaltung wurde als Joint Classroom-Projekt durch Studienqualitätsmittel im Bereich „Internationalisierung der Curricula“ seitens der Georg-August Universität Göttingen gefördert.


Drei Gruppen nahmen am Projekt teil: Studierende des Instituts für Digital Humanities der Universität Göttingen unter der Leitung von Elisabeth Günther, Studierende des Bereichs Alte Geschichte der Universität Kassel sowie des Institute for the History of Ancient Civilizations (IHAC) der Northeast Normal University, Changchun (China) unter der Leitung von Sven Günther. So wurden gleich drei Veranstaltungen an verschiedenen Universitäten aufgesetzt, um sich der Frage eines semantic mapping seitens Plinius mit verschiedenen Perspektiven und verschiedenen Methoden anzunähern. Das von Sven Günther geleitete Seminar an der Universität Kassel nahm die historische Dimension des Plinius-Textes in den Blick, während die Übung von Elisabeth Günther am Institut für Digital Humanities die digitalen Möglichkeiten auslotete, die semantische Topographie Roms aus der Perspektive von Plinius in Form einer Kartierung der im Text abgelegten Daten (sogenannte items, also Einträge zu Personen wie Künstlern, Kaisern oder römischen Eliten, Orten, Gebäuden, Kunstwerken etc.) umsetzen zu können. Ein drittes, von den Dozierenden gemeinsam getragenes Projekt fand am IHAC statt, um die im vorangegangenen Semester in einer Lektüreübung gewonnene historiographisch-historische Perspektive in einer auf einen Monat angelegten Projektarbeit direkt mit der Göttinger Digitalisierungsübung und den daran beteiligten Studierenden zu vernetzen und intensiveren wie interkulturellen Austausch beim „work in progress“ zu ermöglichen.

Die Zusammenarbeit zwischen den Projektgruppen in Göttingen und Changchun hatte die Form einer dreiwöchigen Gruppenarbeit (26.11.-17.12.2020). Grundlage der hierbei erstellten ersten Onlineausstellung mit interaktiver Karte war eine Passage zum Ausstattungsluxus der Privathäuser am Hang des Palatin-Hügels in republikanischer Zeit (Thema: „Scaurus, Crassus und die Säulen“, Plin. nat. hist. 36,2-3,4-8) mit kritischem Blick auf die zur Zeit des Plinius ebenfalls auf dem Palatin errichteten Kaiserpaläste.

Die Arbeits- und Projektumsetzungssprache war Englisch. Wesentliche und neben den inhaltlichen Punkten zu beachtende Aspekte wie Organisations- und Kommunikationsformen/-strukturen, Zeit- und Workflow-Management und mögliche Binnendifferenzierungen nach Expertisen wurden den Studierenden per kompetenzorientierten Arbeitsaufträgen an die Hand gegeben. Die konkrete Umsetzung lag allerdings in deren Verantwortung, so dass die Dozierenden im weiteren Verlauf während der Projektsitzungen respektive auf Abruf vor allem beratend und rückmeldend als Moderatoren zur Seite standen. Nach dem Jahreswechsel arbeiteten die Projektgruppen in Göttingen und Kassel parallel an fünf Themen, anhand derer die Göttinger Studierenden die zweite, umfangreichere Onlineausstellung mit interaktiver Karte erstellten:

I: Vergessene Kunst in Rom? (Plin. nat. hist. 36,4,27-29)

II: Das Grabmal des Mausolos (Plin. nat. hist. 36,4,30-31+32)

III: Asinius Pollio und die Porticus Octaviae (Plin. nat. hist. 36,4,33-35)

IV: Augustus, Titus, Laookon und die Kaiserpaläste (Plin. nat. hist. 36,4,36-38)

V: Kunst auf der Resterampe? (Plin. nat. hist. 36,4,39-43)

In einer gemeinsamen Sitzung am 05.02.2021 konnten sich die beiden Projektgruppen intensiv austauschen, um die verschiedenen Perspektiven auf das angenommene semantic mapping seitens des Autors Plinius in einer Diskussion über die unterschiedlichen Methoden der Textanalyse und -interpretation zusammenzuführen und insbesondere auch die Chancen und Grenzen digitaler Methoden für geisteswissenschaftliche Fragestellungen zu beleuchten. Hierbei ergaben sich interessante Ansatzpunkte zur Kombination und gegenseitigen Kontrolle von textanalytisch-historischen und digital-datenbasierten Verfahren, um wissenschaftlich solide Interpretationen zu ermöglichen. In jeweils eigenen Abschlusssitzungen in Göttingen und Kassel wurde die gesamte Übungs- bzw. Seminararbeit bezüglich inhaltlicher wie formaler Ebene nachbesprochen und in jeweils unterschiedlicher Form evaluiert.

Die Studierenden aus China und Deutschland sollten in möglichst freien und nicht-beständig dozentenfokussierten Austausch gebracht werden. Daher wurde für diese Sitzungen nicht auf die Konferenzplattform Zoom, die bei getrennten Sitzungen Anwendung (mit und ohne breakout-Rooms) fand, zurückgegriffen, sondern ein eigener Meetingraum auf dem interaktiven Online-Tool gather.town innerhalb des dort angelegten digitalen IHAC kreiert. Das Setting mit zentralem Treffpunkt in der Mitte und kleineren Gruppenarbeitsbereichen sollte sowohl eine von den Dozierenden angeleitete Projektthemenarbeit initiieren als auch die eigenständige Planung, Absprache und Durchführung seitens der Studenten in zwei parallel arbeitenden Gruppen, unabhängig von den Kursstunden, ermöglichen helfen. Trotz einiger technischer Schwierigkeiten wurde das Tool in einer anonymen Evaluation zu Semesterende positiv beurteilt; als großer Vorteil gegenüber anderen Chatprogrammen wurde die Möglichkeit genannt, gemeinsame Ideen auf einem virtuellen Whiteboard skizzieren und Aufgabenstellungen direkt vor Ort abrufen zu können. Die unterschiedlichen Formen des gegenseitigen Austausches – Plenumsdiskussion, Gruppengespräch, Einzelgespräch – kamen der Situation im Präsenzunterricht relativ nahe und boten entsprechendes didaktisches Potenzial.

Bei OMEKA handelt es sich um eine Dublin Core-Datenbank, welche durch Plugins zur Erstellung einer Onlineausstellung erweitert und für die Erstellung einer interaktiven Karte genutzt werden kann. OMEKA ist ein Open Scholar Projekt des Rosenzweig Center for History and New Media (https://omeka.org) und wird v.a. im angelsächsischen Bereich für digitale Lehrprojekte eingesetzt. Dank des engagierten Einsatzes von Alexander Zeckey vom Institut für Digital Humanities konnte eine Virtuelle Maschine aufgesetzt und eingerichtete werden, sodass die OMEKA-Datenbank kostenlos allen Studierenden zur Verfügung stand.

OMEKA erwies sich durch eine einfache und intuitive Handhabung als sehr geeignetes Tool, das im Rahmen einer Lehrveranstaltung sehr gut einsetzbar ist. Dabei war von Vorteil, dass die einzelnen Datenbankeinträge (items) mit den von den Studierenden angelegten Erklärungstexten und Bildern als flexibel einsetzbare Bausteine für die Ausstellung dienten. Die Ausstellungen selbst setzen sich aus einzelnen Modulen, pages, zusammen, welche später in einer Sidebar sichtbar und einzeln aufrufbar sind. Beim Anlegen der pages können Text- und Bildbausteine eingefügt werden, wobei die Bilder auf die unter den jeweiligen items abgelegten Bilddaten zugreifen. Desweiteren können relativ frei interaktive Karten, annotierte Bilder oder auch item-Gallerien angelegt werden, die stets mit den einzelnen items verknüpft sind. Somit ist es möglich, aus einem Grundstock an items mehrere voneinander unabhängige Ausstellungen zu gestalten. Allerdings gibt es bei dem Design der Onlineausstellungen auch Limitierungen, etwa durch Darstellungsfehler, wenn Bilder in Texte eingebettet werden, oder dadurch, dass immer nur eine Basiskarte für alle Ausstellungen verwendet werden kann. Nicht alle kreativen Ideen der Studenten konnten daher wie gewünscht umgesetzt werden.

Als Basiskarte für die Onlineausstellung diente zunächst eine Karte des modernen Rom, in welcher die Lage der von Plinius genannten Bau- und Kunstwerke jedoch nur unzureichend eingezeichnet werden konnte. Daher befasste sich eine Arbeitsgruppe der Göttinger Studierenden mit der Erstellung einer Karte des antike Rom zur Zeit der Veröffentlichung der Naturgeschichte des Plinius, d.h. um 77 n.Chr. Diese Karte wurde mit QGIS erstellt und dann über die Plattform Mapbox in OMEKA importiert. Dabei stand den Studierenden zusätzlich Dr. Carsten Mischka (Universität Erlangen-Nürnberg) als QGIS-Experte unterstützend wie beratend zur Seite.

Grundlage der Karte waren Straßennetz und Wasserwege des modernen Rom (downloadbar unter https://download.geofabrik.de/) sowie das Relief des modernen Stadtgebietes (bereitgestellt via https://www.digitalaugustanrome.org). Um die antike Bebauung um 77 n.Chr. zu modellieren, diente als Grundlage die Kartierung des antiken Roms durch Rodolfo Lanciani, der Anfang des 20. Jahrhunderts erstmalig alle dokumentierten archäologischen Hinterlassenschaften Roms, bekannt u.a. durch ältere Überlieferungen, Ausgrabungen und den Marmorplan der Forma Urbis Romae aus severischer Zeit, in einem modernen Stadtplan verzeichnete. Diese stellt nach wie vor ein qualitativ hochwertiges Referenzwerk dar. Ein PDF der Lanciani-Karte wurde mit dem Programm QGIS durch die Studenten georeferenziert und anschließend digitalisiert, wobei Bauten, die nach 77 n.Chr. entstanden, wie etwa das berühmte Amphitheatrum Flavium = Kolosseum, ausgelassen wurden. Wenn die Lage eines Gebäudes – wie im Falle des Atrium Libertatis, des Titus-Palastes oder der einzelnen Bauten innerhalb der Domus Aurea – nicht genau bekannt waren, wurde dies durch Einzeichnen von Polygonen in einfachen geometrischen Formen am vermuteten Ort umgesetzt. Auch wurde farblich differenziert zwischen Bauten mit (teilweise) belegten Überresten, in Grau, und archäologisch nicht belegten oder archäologisch nur sehr begrenzt fassbaren Bauten, in Rot (s. Bild).

In den Diskussionsrunden der Studierenden in den unterschiedlichen Projektgruppen und Gruppenzusammensetzungen, aber gerade auch durch die Visualisierung der ausgewählten Passagen in einer interaktiven Karte wurde deutlich, wie Plinius in der Naturgeschichte die jeweiligen Orte, Kunstwerke, damit verbundene Personen und Ereignisse geschickt verknüpft, um auf Widersprüche und Ambivalenzen in der kaiserzeitlichen Gesellschaft wie Politik seiner Zeit hinzuweisen. So wählt er aus einem sehr großen Angebot an Bauten und Kunstwerken nur wenige aus, die entsprechendes Assoziationspotenzial aufweisen. Deutlich wurde auch, wie wichtig nicht nur der räumliche Aspekt in den Beschreibungen des Plinius ist, sondern dass auch die Reihenfolge der Schilderungen im Text wertvolle Hinweise auf die Aussageabsicht des Plinius enthält, etwa durch Rückverweise auf vorherige Passagen oder durch die Aneinanderreihung semantisch aufgeladener Kunstwerke und Bauten in einer den Inhalt abbildenden Satz- wie Sprachgestaltung. Insofern lässt sich die Naturgeschichte durchaus als sprachlich versiertes semantic mapping verstehen, dessen vielfältige Aspekte sich erst durch das Zusammenbringen unterschiedlicher Denkansätze und Analysemethoden nachvollziehen lassen.

Gerade die interkulturellen und interdisziplinären Aspekte des Projektes haben die digitale Projektarbeit an der plinianischen Naturgeschichte entscheidend vorangebracht. Obwohl die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe der beteiligten Studenten wie die verschiedenen Herangehensweisen und Perspektiven (Geschichte, Archäologie, Digital Humanities) herausfordernd waren und auch die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen China und Deutschland Studierenden wie Dozierenden einiges an Improvisation abverlangten, bargen genau diese Stimuli für die erfolgreiche Projektumsetzung und Reflektion darüber.

Neben den inhaltlichen Erkenntnissen auf Grundlage einer gemeinsamen Fragestellung, welche den Hauptschwerpunkt aller drei Projektpartner bildete und durch die unterschiedlichen Perspektiven anregende Diskussionen und tatsächlichen Austausch beförderte, waren und sind es gerade der Erwerb von interkulturellen und (digitalen) Softskill-Kompetenzen seitens aller Beteiligten, welche über das Projektseminar hinaus auf andere derart angelegte Projekte übertragen werden können – vor allem in Zeiten, in denen nur digitale Präsenz und Austausch möglich ist.


Das Projektseminar wurde am 27.11.2020 im Rahmen der Tagung Digitale Geschichtswissenschaften und Geschichtsvermittlung in Corona-Zeiten: Herausforderungen – Lösungsansätze – Erfahrungsberichte. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte und EDV e.V. (AGE), 26./27. November 2020, vorgestellt. Eine Publikation des Vortrags ist in Vorbereitung.


Projektbeteiligte Studierende:

Tobias Barth, Tristan Bollwinkel, Johanna Sophia Danielzik, Maike Dawidowski, Melanie Eggert, Aaron Elsig, Yi Gao, Sophie-Charlotte Helena Gissat, Lukas Honemann, Lukas Jordan, Lennart Jürges, Florian Klatt, Sait Can Kutsal, Isabel Lassek, Marc Liebke, Fuxing Luo, Jiancheng Ma, Kevin Maas, Tom Meister, Paul Messall, Jule Meyer, Manuel David Müller, Lukas Oetzel, Christine Reisch, Tilmann Reuter, Jessica Rinnus, Pascal Rohde, Elvis Songwa, Berit Strüber, Mengmeng Su, Pabie Tabo, Felix Thielemann, Alexandra Thies, Henrike Wachsmuth, Fan Wang, Zhenyu Wang, Eike Willenbockel, See-Ling Wong, Xiaoqiang Xia, Zhenhuang Xu, Zehra Yesilyurt, Youying Zeng, Haoran Zhang, Tianyu Zhang, Greta Zimolo.