Titel des Projekts
Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen “Normalarbeitsverhältnis” zu prekärer Beschäftigung (1973-1998)
Gegenstand und Fragestellung
Welche Veränderungsprozesse in Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Politik haben prekäre Beschäftigung hervorgebracht? Inwieweit wurden mit ihrer Hilfe Arbeitsplätze für benach-tei-ligte Beschäftigtengruppen geschaffen? Wie stellte sich prekäre Arbeit im Untersuchungs-zeit--raum dar und wie veränderte sich ihr Charakter? Dies sind die Fragestellungen des skizzierten Promotionsprojektes. Prekäre Beschäftigung zeichnet sich der hier vorgeschla-ge-nen Definition zufolge dadurch aus, dass die Betrof-fenen in dreierlei Hin-sicht aus dem Kreis der „regulär“ beschäftigten Inhaber von „Normalarbeitsverhältnissen“ ausgeschlos-sen sind:
Durch Unterschreitung
der durch „Normal-Arbeit“ gesetzten materiellen Standards,
der durch Arbeits- und Sozialrecht, Tarifvertrag oder Betriebs-verein-barung festgelegten rechtlichen Standards von „Normal-Arbeit“ sowie
der „normalen“ betrieblichen Integrationsstandards, die vor allem in der ge-ringeren Einbindung in kollegiale Strukturen und der eingeschränkten Repräsen-tanz durch betriebliche und gewerkschaftliche Interessen-vertre-tungen zum Ausdruck kommt.
Forschungsdesign
In Teil 1 der Arbeit wird mit Hilfe einer historischen Längsschnittdarstellung die Heraus-bildung des „Normalarbeitsverhältnisses“ als statistische Normalität bzw. als gesell-schaft-liche und juristische Norm rekonstruiert und die um 1973 einsetzende langsame Erosion dieses Arrangements beschrieben. Argumentiert wird, dass die Mehrheit der Frauen aufgrund ihrer diskontinuierlichen Erwerbsverläufe und aufgrund ihrer Konzentration in bestimmten atypischen Erwerbsformen stets hinter den in ihrer Zeit geltenden Integrationsstandards von „Normalarbeit“ zurückblieben, obwohl sie in immer größerer Zahl abhängiger Beschäftigung nachgingen, die im Prinzip Gegenstand sozialpoliti-scher Regulierung war.
Teil 2 geht der Frage nach, ob sich die Ausweitung prekärer Beschäftigung seit Anfang der 1970er Jahre in einem Nettogewinn an Arbeitsplätzen für besonders benachteiligte Beschäf-tigten-gruppen niedergeschlagen hat, wie ihn Befürworter der „Niedriglohnstrategie“ für die Zukunft ankündigen. Mangels branchenübergreifender Daten wird diese Frage anhand des Reinigungsgewerbes erörtert, das sich aufgrund geringer Lohnkosten, rechtlich flexibler Arbeits-verträge und eines geringen Maßes an betrieblicher Verbindlichkeit geradezu als Prototyp einer Branche im gering qualifizierten Niedriglohnsektor darstellt. Eine Rekon-struktion der Beschäf-tigungs-entwicklung im öffentlichen Reinigungsdienst, Gebäudereini-gungs-firmen und privaten Haushalten ergab, dass zwischen 1973 und 1998 allenfalls ein geringer Zuwachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen ist. Da er vor allem durch Aufspaltung sozialversicherter Vollzeit- und Teilzeitstellen in „geringfügige“ Beschäftigungsverhältnisse zustande kam, reduzierte er zudem speziell für benachteiligte Beschäftigtengruppen die Mög-lich-keit, existenz--sichernde Einkommen zu erzielen, wie eine Analyse der Veränderungen in der Belegschaftsstruktur ergab.
In Teil 3 wird rekonstruiert, wie sich die materielle, rechtliche und betriebliche Integration von Beschäftigten im Reinigungsgewerbe zwischen 1973 und 1998 entwickelte. Eine Unter-schreitung materieller Standards fand selbst im öffentlichen Reinigungsdienst statt und wurde verstärkt, wenn Reinigungsfrauen in den Tarifbereich des Gebäudereiniger-Handwerks bzw. privater Haushalte wechselten, zumal mit der „doppelten Privatisierung“ auch die Umge-hung von Tarifverträgen an Bedeutung gewann. Die zunehmende Unterschreitung recht-licher Stan-dards wird am Beispiel der Lohnzahlung bei Urlaub und Krankheit, der rechtlichen Implika-tionen von „geringfügiger“ Beschäftigung sowie der Auswirkungen „atypischer“ Arbeitsver-hältnisse auf den Kündigungsschutz skizziert. Die Unterschreitung betrieblicher Standards kam schließlich im Reinigungsgewerbe in einer zunehmenden zeitlichen und räumlichen Margi-na-li-sierung der Beschäftigten, in einer veränderten Stellung gegenüber Vorgesetzten (genau-er: in der Abnahme von „Fürsorge“- bei gleichzeitiger Zunahme von Kontroll-elementen) und in einer zunehmenden Ausgrenzung aus informellen Strukturen kollegialer Solidarität sowie aus formellen Strukturen der Interessenvertretung in Betriebsrat und Gewerkschaft zum Ausdruck.
Prekäre Arbeit und die Zukunft des „Europäischen Sozialmodells“
Das Konzept eines „Europäischen Sozialmodells“ beruht auf vergleichsweise regulierten Arbeits-märkten und einem Sozialsystem, das durch Beiträge aus kontinuierlicher qualifizier-ter „Normalbeschäftigung“ finanziert wird. Eine staatlich geförderte Ausweitung von gering entlohnter, rechtlich flexibler und betrieblich kaum integrierter Lohnarbeit würde daher nicht nur den Charakter des Arbeitsmarktes, sondern auch die Grundlagen des Systems sozialer Sicherung in Frage stellen.