Jana Lüdtke (Berlin): Lyrische Stimmung und ästhetisches Gefallen: Zur Testung der Mood-Empathy Hypothese im Rahmen eines neurokognitiven Arbeitsmodells des literarischen Lesens
Obwohl die Rezeption von Gedichten oft als ein hoch emotionaler Prozess beschrieben wird, gibt es nur sehr wenig empirische Forschung, die sich mit dem emotionalen Erleben beim Lesen von Gedichten beschäftigt. Empirische Forschung zur Rezeption von Gedichten konzertiert sich häufig auf den Einfluss stilistischer und formaler Merkmale wie Metrum und Rhythmus auf die Verarbeitung, Bewertung und Reproduktion von Gedichten. Unterschiedliche emotionale Reaktionen wie Empathie, Sympathie oder Immersion, die im Zusammenhang mit der Rezeption narrativer Texte beschrieben und untersucht werden, sind bisher kaum Gegenstand empirischer Untersuchungen. Dabei sollten gerade Gedichte besonders gut dazu geeignet sein, beim Leser einen Wiederhall der in ihnen dargestellten Emotionen zu erzeugen. Wenn das Lesen von Gedichten ähnlich wie das Lesen narrativer Texte durch den Aufbau mentaler Repräsentationen, sogenannter Situationsmodelle charakterisiert ist, dann sollte die Rezeption von Gedichten nicht nur durch emotionale Reaktionen in Bezug auf das Gedicht und die verwendeten Stilmittel gekennzeichnet sein, sondern eben auch durch empathische Reaktionen bezüglich der dargestellten Situationen und Stimmungen. In diesem Vortrag werden anhand einiger ausgewählter empirischer Studien mögliche Ansätze zur theoriegeleiteten Rezeptionsforschung dargestellt, die sich spezifisch mit den Möglichkeiten der Differenzierung verschiedener emotionaler Reaktionen bei der Rezeption von Stimmungsgedichten beschäftigen.