1. Die dämmernde Demokratie
Für Veith Selk sind die letzten Stunden der Demokratie gezählt, die Demokratiedämmerung ist angebrochen. Dieses Bild zeichnet Selk im Vorwort zu „Demokratiedämmerung: eine Kritik der Demokratietheorie“, indem er sich, in Anlehnung an Hegel, als kontemplative, neutrale Eule der Minerva imaginiert, die ihren Flug zur einbrechenden Dämmerung beginnt und die alt gewordene Gestalt ihres Gegenstandes nur noch beschreiben, nicht aber verändern kann. Selk widmet sich einer solchen neutralen Beschreibung der Demokratie in seiner überarbeiteten Habilitationsschrift. Seine zentrale These liegt in der Beschreibung eines von ihm so bezeichneten Devolutionsprozesses, welchen er als die Ursache des Niedergangs der Demokratie identifiziert. Aufgekommene politische Alternativen als Reaktionen auf die Defizite demokratischer Politik verwirft Selk als nicht überzeugende Antworten auf die Demokratiedämmerung. So neutral Selk die Analyse der Demokratie vornimmt, so kritisch bewertet er ihre Kritiker*innen. Denn mit der Demokratie sieht Selk auch die Demokratietheorie zerfallen, da sie ihren Forschungsgegenstand verliert. Selk vollzieht daher eine harte Abrechnung mit seinen Kolleg*innen in der Demokratietheorie, welche einem unplausibel gewordenen Konzept nachhängen. Zuletzt seziert Selk rhetorische Figuren und Manöver seiner Fachkolleg*innen, welche das Ziel verfolgen, sich der Demokratie als Konzept zu vergewissern. Selk appelliert mit seinem Werk an die Politikwissenschaft, neue, normativ attraktive Ideen für die Politik zu entwickeln, anstatt an einer „alt gewordenen“ Gestalt festzuhalten (Selk, 2023, S. 7).

Die Thesen Selks werden im Folgenden einer kritischen Reflexion unterzogen. Dazu wird zunächst eine ausführliche Inhaltszusammenfassung vorgelegt. Darauf folgt eine Einordnung des Werkes anhand verschiedener Rezensionen, deren Positionen zusammengetragen und abgewogen werden. Abschließend werden die vorgebrachten Argumente resümiert und in einem Fazit beurteilt.

2. Die Kernthesen von Demokratiedämmerung
Demokratiedämmerung befasst sich mit den zunehmenden Legitimationsproblemen liberaler Demokratien, die Selk auf die fragwürdig gewordene Progressionsthese zurückführt. Diese geht von drei Annahmen aus: a) Fortschritte kumulieren und führen zu einem Positivsummenspiel ohne strukturelle Verlierer*innen, b) Demokratie ist ein funktionales Korrelat der Modernisierung, der sich nur solche Probleme stellen, welche sie auch lösen kann, sowie c) der Annahme einer progressiven Bürgerkompetenz, die aufgrund einer optimistischen Anthropologie von einer demokratieaffinen Bildungsfähigkeit der Bürgerschaft ausgeht (Selk, 2023, S. 8–9). An diesen Annahmen scheitert die Progressionsthese, da die Modernisierung zunehmend Probleme hervorbringt, welche die Demokratie nicht lösen kann. Bisher erreichte Fortschritte scheinen zudem nicht mehr vor Regression gefeit zu sein. Die idealtypische, demokratieoptimistische Progressionsthese lässt sich nicht mehr mit der alltäglichen Erfahrung der Demokratie in Einklang bringen und tritt zunehmend als fragwürdig ins Bewusstsein. Aus diesem Grund entsteht in der Gesellschaft Demokratieskepsis (Selk, 2023, S. 10). Selk argumentiert, dass diese Skepsis begründet ist und vertritt die These, dass sich die Demokratie in einem Devolutionsprozess befindet, welcher die Grundlagen demokratischer Politik und Legitimation zersetzt. In der Konsequenz vertritt Selk die These, dass auch die Demokratietheorie unplausibel wird, weil ihr empirischer Gegenstand schwindet (Selk, 2023, S. 11).

Im ersten Kapitel argumentiert Selk, dass die von ihm postulierte Devolution der Demokratie das Ergebnis der fortschreitenden soziopolitischen Entwicklung ist. Konkret nennt er vier Prozesse, welche zusammen die Devolution der Demokratie herbeiführen: 1. Politisierung der Gesellschaft, 2. Differenzierung und Komplexität, 3. Kognitionsasymmetrie innerhalb der Bürgerschaft und 4. das Ende des demokratischen Kapitalismus.

Die moderne historische Entwicklung zur ‚politischen Gesellschaft‘ (zitiert nach Greven, 2009; Selk, 2023, S. 33) hat zur zunehmenden Politisierung der Gesellschaft geführt. Begründet wird dies durch ein wachsendes Kontingenz- und Könnensbewusstsein in der Bevölkerung. Nahezu alle Themen können zum Politikum werden, keine soziale Sphäre und kein Sachverhalt ist vor Politisierung prinzipiell geschützt. Selk meidet eine normative Bewertung der zunehmenden Politisierung. Jedoch bewirkt sie eine Ausweitung der öffentlichen Angelegenheiten, welche wiederum zu einem erhöhten Bedarf an Legitimation führt. Demokratische Legitimation bietet mit den ständig vorhandenen oppositionellen Instanzen stets Möglichkeiten zur Politisierung, sodass jeder Sachverhalt als mehrdimensionales politisches Problem verhandelt werden kann. Selk sieht darin eine „unentrinnbare Politisierungsdynamik“ (Selk, 2023, S. 36), welche nicht zuletzt die politischen Verfahren selbst erfasst. Diese verlieren dadurch den Status neutraler Arenen (zitiert nach Levitsky & Ziblatt, 2019; Selk, 2023, S. 37) und die ‚Legitimation durch Verfahren‘ (zitiert nach Luhmann, 1983; Selk, 2023, S. 37) schwindet. Zusammengefasst entsteht eine Gleichung, laut der steigende Politisierung zur sinkenden Fähigkeit führt, die für die Zunahme an politischen Entscheidungen nötige Legitimität zu schaffen (Selk, 2023, S. 38).

Neben dem Prozess der Politisierung der Gesellschaft diagnostiziert Selk die Zunahme an Differenzierung und politischer Komplexität, welche ein transparentes Verständnis der Politik verhindert. Das gestiegene politische Könnensbewusstsein der Bevölkerung steht also gegenüber einer immer komplexeren politischen Landschaft mit einem Vielfachen an politischen Akteuren, Netzwerken, Institutionen und Organisationen (Selk, 2023, S. 39–40). Zugleich ist auch die soziale Komplexität gestiegen und „eine komplexer werdende Gesellschaft erzeugt eine komplexer werdende Politik und umgekehrt“ (Selk, 2023, S. 41). Selk folgert daraus, dass die sich ausdifferenzierende Netzwerkstruktur der Politik eine Wir-Identität in der Bevölkerung zersetzt. Diese wiederum erschwert kohärentes Regieren und ruft den Eindruck eines allgemeinen Politikversagens hervor (Selk, 2023, S. 41–43). Steigende Differenzierung und Komplexität führen also dazu, dass politische Prozesse zunehmend opak werden und politische Verantwortlichkeiten nicht richtig zugeordnet werden können. Dennoch wird der politischen Klasse Verantwortung zugeschrieben und sie erntet dafür Legitimationsverlust, Misstrauen, Zynismus und Hass (Selk, 2023, S. 50).

Durch eine zunehmende Kognitionsasymmetrie wird ein weiteres Erfordernis der Demokratie verletzt. Selbst bei minimalistischen Demokratiemodellen wird eine kognitive Bürgerkompetenz sowie eine gleichmäßige Verteilung politischen Wissen in der breiten Gesellschaft erfordert. Zugleich ist jedoch die politische Bedeutung der Öffentlichkeit gestiegen, während politisches Wissen zu einem zunehmend umkämpften (Legitimations-)Faktor in der demokratischen Politik wird (Selk, 2023, S. 53–56). Diese beiden Prozesse erhöhen den Bedarf an informierten und politisch kompetenten Bürger*innen, empirische Betrachtungen führen jedoch zu ernüchternden Ergebnissen: Politisches Faktenwissen ist in der Bürgerschaft auf einem eklatant niedrigen Niveau und kognitive Kompetenzen, wie Lese- und Schreibfähigkeiten, sind ungleich verteilt. Die Verständlichkeit der Politik ist in der Bevölkerung nicht bzw. lediglich auf stark unterschiedlichem Niveau gegeben, sodass die Legitimation demokratischer Regime leidet (Selk, 2023, S. 56–65).

Als letzten Prozess, der die Devolution der Demokratie hervorbringt, beschreibt Selk das Ende des demokratischen Kapitalismus. Mit dem Begriff des demokratischen Kapitalismus wird die historisch enge koevolutionäre Verknüpfung zwischen Demokratie und Kapitalismus bezeichnet (Selk, 2023, S. 66–67). Das Funktionieren dieser politischen und wirtschaftlichen Systemkombination wird darauf zurückgeführt, dass die real existierenden Demokratien in ihrer historischen Genese politisch-kulturell auf sozialer Hoffnung und Gemeinsinn fußen. Kapitalistische Institutionen wurden daher institutionell durch sozialstaatliche Instrumente eingehegt, sodass für drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg eine solide Phase der Koexistenz zwischen sozialem Kapitalismus und sozialer Demokratie herrschte. Diese war aber nicht von Dauer, da das Marktsystem soziale und ökologische Politiken, welche der Profitlogik des Kapitalismus widersprechen, strukturell verhindert. Begründet wird dies damit, dass im demokratischen Kapitalismus nicht nur die „politische Klasse“, sondern auch die „Geschäftsklasse“ (zitiert nach Lindblom, 1982; Selk, 2023, S. 70) einflussreiche Organisations- und Koordinationsfunktionen ausübt. Eigentümer privater Wirtschaftsunternehmen verfügen über den größten Teil der gesellschaftlichen Arbeitskraft, müssen ihre Entscheidungen aber nicht gegenüber der Öffentlichkeit verantworten. Auf Reformen, die marktbegrenzend, dekommodifizierend oder anderweitig systemfremd wirken, reagiert die Geschäftsklasse in unternehmerischer Logik, sodass derartige Politiken bestraft werden. In der Folge entstehen Nachteile für Arbeitnehmer*innen und Verbraucher*innen, für welche aber nicht der verursachenden Geschäftsklasse, sondern der politischen Klasse Verantwortung zugeschrieben wird. Die Politik übernimmt im demokratischen Kapitalismus eine Sündenbockfunktion, wodurch die Geschäftsklasse ein wirkmächtiges Sanktionspotential erhält, welches wiederum von der politischen Klasse antizipiert wird (Selk, 2023, S. 70–71). Im Ergebnis hat hierdurch „[i]m demokratischen Kapitalismus […] der Pluralismus Grenzen und begünstigt die Geschäftsklasse“ (Selk, 2023, S. 71). Aus diesem Grund schwindet die soziale Hoffnung auf ‚immerwährende Prosperität‘ und die Phase des demokratischen Kapitalismus geht ihrem Ende zu (Selk, 2023, S. 74). Als Ergebnis des Zusammenspiels zwischen der Reformscheu der politischen Klasse in Anbetracht der Macht der Geschäftsklasse, neoliberalen Argumentationen, die Deregulierung und Flexibilisierung vorantreiben, sowie der Konstitutionalisierung im Zuge der europäischen Integration und der einhergehenden Verlagerung von politischen Entscheidungszentren in Arenen jenseits der nationalen demokratischen Öffentlichkeiten, strukturiert sich die Gesellschaftsstruktur um. Es entsteht eine neue Polarisierung zwischen der „Oberklasse“ und der „neuen Mittelklasse“ auf der einen und der „alten Mittelklasse“ und der „Unterklasse“ auf der anderen Seite (zitiert nach Reckwitz, 2019; Selk, 2023, S. 76). Diese Polarisierung wird zunehmend als ungerechtes Nullsummenspiel wahrgenommen, bei dem die Gewinner des „nunmehr postdemokratischen Kapitalismus“ sich von der Bürgerschaft entfernen, weniger zum Gemeinwesen beitragen, aber mehr von ihm erhalten (Selk, 2023, S. 76). Das entstandene Missverhältnis zwischen dem entgrenzten Kapitalismus und der begrenzten, nicht über ihren staatlichen Rahmen hinauswachsenden Demokratie schadet der Legitimation liberaler Demokratien, da sie zunehmend als ungerecht erscheinen (Selk, 2023, S. 83).

Selk fasst die beschriebenen Prozesse zusammen als „Momente einer historischen Entwicklung, in der die Fortentwicklung moderner Gesellschaften und ihrer politischen Verhältnisse einen Niedergang der Demokratie mit sich bringt“ (Selk, 2023, S. 83). Er erklärt, dass der Begriff der Devolution (De-Evolution) die Gleichzeitigkeit erfassen soll, „in der ein Resultat von moderner Evolution die Erosion der Demokratie ist“ (Selk, 2023, S. 83 Herv. i. O.). Anders als in demokratieoptimistischen Modernisierungstheorien führt die Fortentwicklung der Gesellschaft nicht zu einer stetigen Demokratisierung, sondern hat stattdessen entdemokratisierende Effekte (Selk, 2023, S. 84).

Im zweiten Kapitel stellt Selk drei Reaktionsformen auf die Defizite demokratischer Regime vor: den Rechtspopulismus, die Expertokratie und die partizipative Governance. Alle drei politischen Alternativen haben gemein, dass sie demokratische Regierung kritisieren, sie aber im Grunde nicht ablehnen. Keine der drei politischen Alternativen kann jedoch laut Selk funktional oder normativ als überzeugende Alternative zur Demokratie gelten (Selk, 2023, S. 91). Die Expertokratie hat demnach ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie. Sie bedarf der demokratischen Legitimation, demokratische Politikgestaltung wird jedoch als nachrangig angesehen. So entstehen widersprüchliche Prinzipien der Legitimität zwischen demokratischen, gleichheitsbasierten Verfahren auf der einen Seite und fachlicher Kompetenz vormundschaftlicher Experten und wissenschaftlicher Expertise auf der anderen Seite (Selk, 2023, S. 131–133, 143–144). Der Rechtspopulismus wird als ein inhaltlich stark kontextrelatives, reaktives Protestphänomen identifiziert, welches besonders gut gesellschaftliche Probleme wahrnehmen und aufgreifen kann. Übernimmt eine rechtspopulistische Partei jedoch Regierungsverantwortung, führt ihre zentralistische Politik zur schrittweisen Aushöhlung der Demokratie (Selk, 2023, S. 111, 147–149). Die partizipative Governance reflektiert die partizipatorische Revolution und die Politisierung der Gesellschaft und beinhaltet anspruchsvolle und beteiligungsorientierte Elemente und Versprechen von „mehr Demokratie“ (Selk, 2023, S. 134–136). Diese Versprechen kann sie jedoch nicht einlösen, da die Wahrnehmung politischer Partizipationsmöglichkeiten stark von sozialen und wirtschaftlichen Faktoren abhängt. So entsteht eine sozioökonomische Partizipationslücke zwischen „Aktivbürger*innen“ und „Wahlbürger*innen“, sodass in der Konsequenz mehr Partizipation zu mehr sozialer und politischer Ungleichheit führt (Selk, 2023, S. 145). Selk bezeichnet daher alle drei politischen Reaktionen als „komplementär defizitäre nachdemokratische Ansätze“, welche nicht in der Lage sind, die gegenwärtigen Probleme demokratischer Regime zu lösen (Selk, 2023, S. 143).
Vor dem Hintergrund dieser Krisendiagnose übt Selk im dritten Kapitel eine konsequente Kritik an den drei derzeit einflussreichsten demokratietheoretischen Ansätzen: der radikalen Demokratietheorie, der deliberativen Demokratietheorie und der liberalen Demokratietheorie. Bei allen drei Ansätzen handelt es sich um Modelle, die den Anspruch erheben, die normativen Maßstäbe an die Demokratie „einigermaßen wirklichkeitsgerecht darzustellen“ (Selk, 2023, S. 175). In der von Selk vorgenommenen Kritik wird jedoch argumentiert, dass die Modelle im Zuge der Devolution der Demokratie an ihren Ansprüchen scheitern. Daher werden die Ansätze in Bezug auf den Devolutionsprozess dahingehend analysiert und beurteilt, ob ihre Maßstäbe an die Demokratie noch Bestand haben.

Das radikaldemokratische Modell, entstanden im Kontext der partizipatorischen Revolution aus einer theoretischen Umorientierung der radikalen linken Politik, sah die Demokratie als Schlüssel der Organisations- und Orientierungsprobleme der Linken. Der Ansatz besteht dabei im Wesentlichen in einer Radikalisierung der Demokratie und einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft. Diese soll die Bedingungen für eine progressive Transformation aller Gesellschaftsbereiche schaffen, indem die Verhältnisse und Machtstrukturen hinterfragt werden und veränderbar erscheinen (Selk, 2023, S. 181). Die umfassende Demokratisierung soll in Chantal Mouffes Modell darüber geschaffen werden, dass eine dauerhafte Konfrontation konkurrierender hegemonialer Projekte besteht, eine „Wir-gegen-Sie Relation“ (Selk, 2023, S. 187). Daher sieht Selk die demokratietheoretischen Ausführungen Mouffes im Wesentlichen als eine Begründung der Notwendigkeit eines linken demokratischen Projekts für das Fortbestehen der Demokratie. In Bezug auf den Devolutionsprozess sieht Selk den Ansatz daran scheitern, die umfassende egalitäre Demokratisierung der Gesellschaft zu erreichen. Ihm stellen sich die gleichen Probleme wie der oben ausgeführten partizipativen Governance, also eine sozioökonomische Partizipationslücke und den daraus resultierenden Schäden am Anspruch politischer Gleichheit (Selk, 2023, S. 190). Außerdem kritisiert Selk das dichotome Denkmodell radikaldemokratischer Ansätze und sieht diese in Anbetracht der Devolution widerlegt. Einerseits bezieht er sich hier auf die binäre Unterscheidung zwischen linken und rechten Hegemonieprojekten, andererseits auf die beiden angenommen Entwicklungsrichtungen hin zu Demokratie oder Totalitarismus. Beide scheitern an der zunehmenden Differenzierung und Komplexität der Gesellschaft (Selk, 2023, S. 191–192). Abschließend lobt Selk zwar Mouffes Analysen postdemokratischer und postpolitischer Tendenzen, sieht aber einen Widerspruch zwischen diesen und dem von Mouffe vertretenen radikaldemokratischen Demokratiemodell. So wird „das theoretische Demokratiemodell […] durch die Zeitdiagnose widerlegt“ (Selk, 2023, S. 194).

Das deliberative Modell entstand historisch im Kontext der Bildungsexpansion und der damit einhergehenden Vermehrung von Sprecherpositionen in der Öffentlichkeit sowie der Entstehung der „Wissensgesellschaft“ und dem daraus gewachsenen Bewusstsein der Kontingenz, wodurch jegliche Lebensbereiche als verhandelbar aufgefasst werden und in zunehmender Politisierung resultiert (Selk, 2023, S. 197). Zeitgleich vollzog sich der linguistic turn in der Wissenschaft, der vom mentalistischen Paradigma, mit einem Bewusstsein von Subjekten, zum linguistischen Paradigma überleitete, mit einem Fokus auf Sprache und Diskurse (Selk, 2023, S. 198). Diese Kontexte spiegeln sich im deliberativen Demokratiemodell nach Habermas, in dem ein starker Fokus auf Kommunikationsverhältnisse zwischen Subjekt und Kollektiv liegt. Sprache gilt hierbei als Medium der vernünftigen Verständigung. In den Kommunikationsströmen zwischen dem staatlichen Zentrum und der gesellschaftlichen Peripherie passieren demnach Rationalisierungseffekte, aus welchen die Legitimation demokratischer Regime hervorgehen soll (Selk, 2023, S. 202–203). Die notwendigen Voraussetzungen des deliberativen Demokratiemodells sind jedoch laut Selk in Anbetracht der Devolution nicht mehr gegeben. Das Ende des demokratischen Kapitalismus und die Partizipationsaristokratie stehen im Widerspruch zur Norm der egalitären und breit streuenden Partizipation. Die zunehmende Politisierung dringt in die Privatsphäre vor, welche in diesem Zuge nicht mehr die Funktion einer unpolitischen Regenerationssphäre im Sinne Habermas‘ erfüllen kann. Darüber hinaus erodiert die Differenzierung (insbesondere auf Ebene der Massenmedien durch soziale Medien und digitale Plattformen) den rationalisierenden Faktor der politischen Kommunikation (Selk, 2023, S. 206–208). Zusammenfassend lassen die Prozesse der Devolution die Bezüge auf Deliberation als Verständigung und kommunikative Rationalität unplausibel erscheinen (Selk, 2023, S. 211). Habermas selbst hat in jüngeren Texten skeptischere Beschreibungen der zeitgenössischen Demokratie formuliert und diagnostiziert die zunehmend reaktive Position der Exekutive, welche von „eigensinnigen Funktionssystemen“ getrieben ist (Selk, 2023, S. 213). Andere Neuauflagen der deliberativen Demokratietheorie strapazieren das Modell zu sehr, was darauf hindeutet, dass die theoretischen Konzepte im Zuge der Devolution unplausibel werden (Selk, 2023, S. 219).

Liberale Modelle werden von Selk durch ihren methodisch-normativen Bezug auf das Subjekt, ihren kategorialen Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft und ihre rechtsförmige Konzeptualisierung demokratischer Politik charakterisiert. Es werden drei unterschiedliche Anspruchsniveaus liberaler Theorien – von schwach bis stark – unterschieden. Der starke politische Liberalismus kritisiert die unzureichende Erfüllung demokratischer Versprechen und sieht sich selbst als ein „melioristisch-progressives Korrektiv“ (Selk, 2023, S. 220) der liberalen Demokratie. Dahl, als einer der Hauptvertreter des starken Liberalismus, formuliert in der Begründung seines Polyarchie-Modells Kriterien für die Demokratie, welche das hohe normative Anspruchsniveau dieser Denkschule verdeutlichen. Sie beinhalten „wirksame Teilhabe“, „Kontrolle der politischen Agenda“, „gleiches Stimmrecht“, „aufgeklärtes Verständnis“ und „Inklusion“. Diesem Idealmodell der Demokratie stellt er das an der Wirklichkeit orientierte Polyarchie-Modell gegenüber, für welches er nur zwei empirisch informierte Kriterien formuliert: das „Kriterium des breiten Einbezugs“ und das „Kriterium der Kontestation“ (Selk, 2023, S. 223). Beide Modelle werden von Dahl theoretisch verknüpft, indem er die Institutionen der Polyarchie als Instrumente zur Annäherung an die ideale Demokratie versteht (Selk, 2023, S. 224). Der Liberalismus mittleren Anspruchsniveaus ist der Demokratie gegenüber nicht unkritisch, hebt aber das bereits erreichte Niveau politischer Freiheit und Gleichheit hervor. Im besonders progressiven Liberalismus sieht diese Theorierichtung einen demokratiegefährdenden Utopismus (Selk, 2023, S. 222–223). Im Unterschied zu Dahl formuliert diese Ausprägung des Liberalismus ein Modell demokratischer Regime, welches sie auch in der Wirklichkeit realisiert sehen. Selk bezieht sich hierbei auf den von Judith N. Shklar formulierten Liberalismus der Furcht (Selk, 2023, S. 225).[1] Shklar hat das Demokratiemodell im Kontext des kalten Krieges mit dem Zweck der Abgrenzung zwischen westlichen Regimen und Regimeformen totalitärer und autoritativer Herrschaft entwickelt. Ihr Fokus liegt daher auf den Unterdrückungspotentialen majoritärer Politik. Der Theorie liegt eine pessimistische Anthropologie zugrunde, in der die „Grausamkeit an erster Stelle“ steht. Liberal-demokratische Institutionen müssen daher geschützt werden, weil sie am ehesten geeignet sind, Grausamkeit zu minimieren (Selk, 2023, S. 225–226). Die Demokratie erscheint hier also vielmehr als überlebensnotwendige Instanz denn als ein Projekt, das Verbesserungen und Innovationen für die Gesellschaft anstrebt (Selk, 2023, S. 227). Ein Fortschrittsimpuls findet sich bei Shklar darin, dass sie eine progressive Bürgerkompetenz und Bildungsfähigkeit annimmt, die es Bürger*innen ermöglicht, ein zunehmend sensibles Gespür für Grausamkeiten zu entwickeln (Selk, 2023, S. 232). Das schwache Modell des Liberalismus formuliert lediglich minimale Anforderungen an demokratische Politik und Legitimation. Diese Theorierichtung sieht Elitenherrschaft als rohen Fakt an und versucht daher Elitenherrschaft und Demokratie durch ein Wahlsystem, Minderheitenschutz, rechtsförmige Herrschaftsbeziehungen und eine institutionalisierte Opposition in Einklang zu bringen (Selk, 2023, S. 223). Ein in dieser Theorieschule relevantes Modell ist das minimalistische Demokratiemodell Schumpeters, entstanden in den 1940er Jahren, welches die Rolle der Bürgerschaft auf ihre Funktion als Wahlvolk reduziert (Selk, 2023, S. 233). Das Kernelement der liberalen Idee bei Schumpeter besteht daher in der Konsumentenentscheidung der Individuen zwischen vorgebrachten Angeboten der politischen Eliten. Demokratie definiert Schumpeter folglich durch Wahlen und freien Wettbewerb zwischen Kandidat*innen um die Stimmen der Wählerschaft (Selk, 2023, S. 236). Selk sieht die Verwirklichungschancen aller drei Varianten des liberalen Ansatzes im Prozess der Devolution schwinden (Selk, 2023, S. 239). Dahls Demokratiedefinition beschreibt lediglich ein Idealbild, sodass es vor Kritik zunächst gefeit ist. Aber auch bei Dahl wird die These, die Polyarchien als Brückenregime im Übergang zum Ideal der Demokratie versteht, durch die Devolution entplausibilisiert, da jegliche Demokratisierungshoffnungen durch negative Sperrklinkeneffekte vereitelt werden (Selk, 2023, S. 240). Kognitionsaymmetrie und ungleiche Partizipationschancen, die zunehmende Politisierung, Differenzierung und Komplexität sowie das Ende des demokratischen Kapitalismus lassen auch den Liberalismus der Furcht und das minimale Demokratiemodell wirklichkeitsfremd erscheinen. Diffuse Ängste nehmen im Zuge der Devolution zu und liberale Institutionen versagen bei der Erfüllung ihrer im Liberalismus der Furcht zugedachten Aufgaben (Selk, 2023, S. 241). Die zunehmende Politisierung und Kognitionsasymmetrie erschweren die Beurteilung der Regierungen durch die Bürger*innen, was aber eine Voraussetzung für eine informierte Wahlentscheidung im minimalistischen Demokratiemodell darstellt (Selk, 2023, S. 243). So urteilt Selk, dass „[a]lle hier behandelten Modelle und Theorien von Demokratie scheitern. Sie malen gleichsam das Grau in Grau des demokratischen Diskurses.“ (Selk, 2023, S. 244)

Im vierten Kapitel seziert Selk verschiedene Strategien der „Demokratievergewisserung“, welche er als Umgangsweisen der Demokratietheorie mit ihrem im Devolutionsprozess schwindenden Forschungsgegenstand versteht. Selk untersucht eine Auswahl demokratietheoretischer Publikationen daraufhin, welche demokratieaffirmierenden, rhetorischen Wendungen und Begriffsmanöver sie begehen und definiert sechs Strategien der Demokratievergewisserung (Selk, 2023, S. 257). Selk begründet diese Tendenz der Demokratietheorie damit, dass sie eine politisch motivierte Forschungsdisziplin ist, die mit ihrem Bezugsregime „genetisch-normativ […] verschwistert ist“ (Selk, 2023, S. 249). So hat sie einen hybriden Charakter zwischen wertfreier empirischer Forschung und wertender normativer Beurteilung (Selk, 2023, S. 249). Anstatt die empirische Transformation der untersuchten politischen Systeme zu analysieren, betreibt die Demokratietheorie weiterhin einen wissenschaftlichen Legitimationsdiskurs, welcher aber zunehmend Schwierigkeiten hat, seine Bezugsregime als demokratisch und legitim zu bewerten (Selk, 2023, S. 249, 255). Im Diskurs der Demokratievergewisserung spiegelt sich die Erfahrung der Devolution wider, was sich in der Beschreibung von Krisen, Bedrohungen und Gefährdungen zeigt, die mittlerweile zum Standardrepertoire der Demokratietheorie gehört (Selk, 2023, S. 256).
Im Epilog trifft Selk das niederschmetternde Urteil, dass sich die Demokratie samt der Demokratietheorie in einer existenziellen Krise befindet. Die Demokratie ist in Auflösung begriffen, die Demokratietheorie befindet sich in einer Paradigmakrise und muss sich der Realität ihres schwindenden Untersuchungsgegenstandes stellen (Selk, 2023, S. 292). Daher richtet sich Selks Appell zum Abschluss der Arbeit an die Demokratietheorie: Anstatt sich stetig ihres Untersuchungsgegenstands zu vergewissern, sollte sie sich mit der Entwicklung neuartiger Legitimationsformen für moderne westliche Gesellschaft befassen, welche den aus der Modernisierung entstandenen Prozessen der Devolution gerecht werden (Selk, 2023, S. 308–309).

3. Kritische Betrachtung der Stärken und Schwächen
Inmitten der Vielzahl an Publikationen zur Krise der liberalen Demokratie hat es „Demokratiedämmerung“ geschafft, in der Fachwelt sowie der interessierten Öffentlichkeit angeregte und kontroverse Debatten auszulösen. Das zeugt von der ebenso provokanten wie streitbaren Analyse des Autors, welcher mit seiner konsequenten Argumentation die Leser*innen zu einer Auseinandersetzung mit seinen Thesen zwingt. Doch welchen substantiellen Beitrag leistet Selk zur wissenschaftlichen Debatte über die Demokratie und die Demokratietheorie? Dieser Frage soll nachgegangen werden, indem ein Überblick über veröffentlichte Rezensionen zu Demokratiedämmerung gegeben wird und lobende und kritische Positionen in einen Dialog miteinander gesetzt und abgewogen werden.

Selks Werk wird durchweg für seine stringente Argumentation und scharfe Analyse gelobt (vgl. Bührer, 2024; Mehring, 2024; Möllers, 2024). Wie Reinhard Mehring urteilt, liegt die überragende Leistung seiner Arbeit in der analytischen Verdichtung des Stoffes, was von einer breiten Kenntnis der politikwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahrzehnte zeugt (Mehring, 2024). Diese präsentiert Selk rhetorisch prägnant und bringt fast jede seiner Thesen in zitierbarer Form auf den Punkt (Mehring, 2024). Der Schreibstil Selks wird aber nicht einhellig positiv kommentiert, da unter der übermäßigen Verdichtung des Materials zuweilen Lesbarkeit und Verständlichkeit leiden. Beispielhaft sind hier Formulierungen wie „partizipative Aristokratisierung“ (Selk, 2023, S. 145) und „agonaler Normativismus“ (Selk, 2023, S. 277) zu nennen, welche Werner Bührer in Anbetracht der konstatierten „Kognitionsasymmetrie“, also der stark ungleichen Verteilung von Alphabetisierung sowie politischem Wissen, als fast ironisch bezeichnet (Bührer, 2024, S. 4). Der Tonfall der Analyse wird von den Rezensent*innen mitunter als kalter Spott und Hohn gegenüber den Fachkolleg*innen aufgefasst. Beispiele sind die Absage an Habermas‘ deliberatives Demokratiemodell, welches Selk „wirklichkeitsfremd“ (Selk, 2023, S. 206) nennt oder die als „karnevaleske“ „Theorieperformance“ (Selk, 2023, S. 263) bezeichneten neueren demokratietheoretischen Publikationen, die versuchen würden, die „utopischen“ Ideen der „Demokratisierung“ (Selk, 2023, S. 279) zu retten. Ob Selks Sprachstil als pointiert streitlustig oder überzogen provokant wahrgenommen wird, unterscheidet sich offenbar je nach Interpretation der Lesenden.

Von größerer Relevanz ist aber die inhaltliche Auseinandersetzung mit den von Selk aufgeworfenen Thesen. Selk verzichtet bei diesen darauf, sich auf ideengeschichtliche Klassiker zu berufen und seziert stattdessen aktuelle Theoriedebatten sowie die allgegenwärtigen Diskussionen von Postdemokratie (Mehring, 2024). Bührer und Mehring loben die klare Positionierung des Autors, die konsequent den Niedergang der Demokratie prognostiziert und sich keiner unbegründeten Hoffnung auf Besserung ergibt (Bührer, 2024; Mehring, 2024). In gleicher Manier erspart sich Selk die Benennung von Alternativen und belässt es stattdessen bei einem Appell an seine Fachkolleg*innen, neue politische Systeme für die transformierte Gesellschaft hervorzubringen. Bevor aber die Forderung nach alternativen politischen Systemen plausibel wird, muss zunächst die Devolutionsthese unterstützt werden. Selk gründet diese auf einer Beschreibung der Realität moderner (demokratischer) Gesellschaften, sodass die Frage nach dem Status der Empirie in seinen Ausführungen naheliegt. Wie Christoph Möllers bemerkt, bezieht sich Selk analog zu der theoretischen Lektüregrundlage auch bei der Empirie auf vereinzelte, kleinteilige Ergebnisse, welche aber nicht durchweg in der Lage sind, die großen Schlüsse, die aus ihnen gezogen werden, überzeugend zu stützen (Möllers, 2024). Dagmar Comtesse hat die Prozesse der Devolution und die dahinterliegende Empirie besonders kritisch hinterfragt und bringt an verschiedenen Stellen Zweifel an. Zunächst kritisiert sie die Problematisierung der zugenommenen Politisierung. Comtesse sieht darin ein rezentes, erfreuliches Phänomen für das sie – anders als Selk – keine Belege einer stetigen Zunahme erkennt. Selk problematisiert jedoch nicht die Politisierung selbst, sondern den daraus resultierenden steigenden Legitimationsbedarf. Die Argumentation für die in jüngerer Zeit zunehmende Politisierung in der Gesellschaft bleibt aber tatsächlich dünn, da Selk sich lediglich auf eine theoretisch-konzeptuelle Quelle[2] bezieht, deren empirische Grundlage nur knapp erläutert wird. So ist Comtesse‘ Kritik insoweit angemessen, als die empirische Begründung bei Selk nur wenig Raum einnimmt, in einer theoretischen Arbeit ist dies aber nicht anders erwartet oder erforderlich. Die auseinandergehenden Einschätzungen über die empirische Entwicklung der Politisierung müssen an anderer Stelle weiter beforscht bzw. diskutiert werden.

Der Prozess der Komplexitätssteigerung ist laut Comtesse nicht zu bestreiten, die daraus resultierende Zunahme politischer Ineffektivität sei aber anzuzweifeln. Als Beispiel einer gegenteiligen Entwicklung führt sie die effektiven, nationalen Corona-Politiken an, die gezeigt hätten, dass trotz hoher gesellschaftlicher Komplexität Regierbarkeit erreicht werden kann. Dies soll ebenfalls als Beleg dafür gelten, dass die These der Irreversibilität der Devolution widerlegt ist, da es hierfür genügt, nur eine der Tendenzen zu widerlegen (Comtesse, 2024, S. 3–4). An dieser Stelle gilt jedoch einzuwenden, dass die Corona-Politik im Kontext einer globalen Ausnahmesituation und mit der Implementierung stark repressiver Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche besonders getroffen haben, kein überzeugendes Beispiel für eine redemokratisierende Tendenz ist (Schmutzler, 2025).[3]

Der nächste Einwand Comtesse‘ bezieht sich auf die von Selk beschriebene Kognitionsasymmetrie. Comtesse lobt grundsätzlich, dass die Devolutionsthese konsequent vom Standpunkt der Masse gedacht wird, was Selk zu einem „progressiven Pessimisten“ macht (Comtesse, 2024, S. 2). Am Beispiel der Kognitionsasymmetrie wird aber deutlich, dass Selk lediglich den Standpunkt der männlichen Masse einbezieht. Den empirischen Belegen von Selk über die ungleich verteilte politische Bildung und Alphabetisierung stellt Comtesse die zunehmende Bildungsbeteiligung von Frauen seit den 1960er Jahren in Ost- und Westdeutschland entgegen. Der Kognitionsasymmetrie auf sozio-ökonomischer Ebene steht eine Kognitionssymmetrie auf der Geschlechtsebene gegenüber (Comtesse, 2024, S. 4).

Auch in der Analyse des Endes des demokratischen Kapitalismus nimmt Selk den Standpunkt der männlichen westdeutschen Masse ein, indem er das Wirtschaftswunder als demokratisches Zeitalter glorifiziert wohingegen die unbezahlte Tätigkeit von Frauen im Haushalt unerwähnt bleibt. Die emanzipatorischen Entwicklungen in den Lebenswelten von Frauen als Ergebnis der feministischen Bewegung zeigen, dass die Devolutionsthese „in dieser Hinsicht ein Totalausfall ist“ (Comtesse, 2024, S. 4). Darüber hinaus argumentiert Comtesse, dass Selks Analyse des Endes des demokratischen Kapitalismus übersieht, dass diese keine unumkehrbare systemische Entwicklung darstellt, sondern das Ergebnis der insbesondere in Deutschland seit den 1990er Jahren betriebenen Austeritätspolitik darstellt. Selk beschreibt das Ende des demokratischen Kapitalismus selbst als eine Entwicklung, die zwar auf systemischen Bedingungen fußt, aber erst im Zusammenspiel mit neoliberaler Deregulierung und Konstitutionalisierung im Zuge der europäischen Integration zunehmend entgrenzt und ungerecht wurde (Selk, 2023, S. 83). Comtesse stellt daher auch hier infrage, ob diese Tendenz nicht unumkehrbar ist und verweist auf den im ultrakapitalistischen System der USA verabschiedeten Inflation Reduction Act als Beispiel für eine Reversion dieser Tendenz (Comtesse, 2024, S. 4). Selks Argumentation mangelt es auch hier an Überzeugungskraft, welche durch eine konsequentere empirische Unterfütterung der Thesen gestärkt werden könnte.

Zusammenfassend ist Selks Versuch, Zeitdiagnose und Theoriediskurs zusammenzuführen, zu würdigen, da eine beeindruckende Syntheseleistung und stringente Schlussfolgerungen dargelegt wurden. Die postulierte Gesetzmäßigkeit des Devolutionsprozesses als demokratieverunmöglichende Entwicklung ist aber aufgrund der vorgebrachten Kritik einiger Rezensent*innen anzuzweifeln (Comtesse, 2024, S. 4, 7; Möllers, 2024). Die theoretischen Herleitungen Selks gilt es daher an anderer Stelle eingehender empirisch zu untersuchen.

4. Abschied von der Demokratie?
Die eingehende Betrachtung der Thesen und Argumente zeigt, welchen Beitrag Selks Demokratiedämmerung zum theoretischen Demokratiediskurs leisten kann. Selks innovativer theoretischer Befund besagt, dass die Prozesse der Devolution als Entwicklungen moderner westlicher Gesellschaften gemeinsam dazu geführt haben, die Demokratie als Regierungsform unplausibel werden zu lassen. In der kritischen Betrachtung dieser These wurde deutlich, dass die Argumentation Selks durchaus stichhaltig ist, es fehlen jedoch bislang Belege, die das Zusammenwirken der verschiedenen Prozesse sowie ihre Gesetzmäßigkeit überzeugend stützen. Der theoretische Befund bedarf also im nächsten Schritt einer empirischen Untersuchung.

Eine große Stärke Selks – der sich selbst als Eule der Minerva imaginiert – liegt in seinem schonungslosen Umgang mit dem Untersuchungsgegenstand, was jedoch beim Lesen des Werkes aus einer Perspektive normativer Verbundenheit zum Ideal der Demokratie zuweilen irritieren kann. So hinterfragt Comtesse in ihrer Rezension das entworfene Bild der besonnenen kontemplativen Eule, und sieht in Selk stattdessen einen hungrigen Geier, der die Demokratie als sterbend markiert und jegliche Hoffnung auf Intervention beseitigt (Comtesse, 2024, S. 1). In einer solchen Interpretation wird Selk jedoch missverstanden. Als progressiver Pessimist appelliert Selk vielmehr an die Demokratietheorie, neue, normativ attraktive Ideen für die Politik zu entwickeln, welche besser zu den Umständen moderner Gesellschaften passen. Die Gesellschaft ist metaphorisch den Schuhen der Demokratie entwachsen. Anstatt an dieser „alt gewordenen Gestalt“ (Selk, 2023, S. 7) festzuhalten, regt Selk dazu an, eine zukünftige Gesellschaft unvoreingenommen zu denken. Gelingt diese Aufgabe, so würde sich das gesellschaftliche und politische Zusammenleben nicht verschlechtern, sondern verbessern, selbst wenn dies den Abschied von der Demokratie bedeutet.

Literaturverzeichnis
Bührer, W. (2024). Craig Calhoun, Dilip Parameshwar Gaonkar, Charles Taylor, Zerfallserscheinungen der Demokratie, Berlin (Suhrkamp Verlag) 2024; Veith Selk, Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin (Suhrkamp Verlag) 2023. Francia-Recensio, 2024/4, 1–4. DOI: 10.11588/FRREC.2024.4.108223.

Comtesse, D. (2024). Eule oder Geier? Rezension zu „Demokratiedämmerung: Eine Kritik der der Demokratietheorie“ von Veith Selk. Soziopolis: Gesellschaft beobachten, 1–8.

Greven, M. Th. (2009). Die politische Gesellschaft: Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie (2. Aufl.). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Levitsky, S., & Ziblatt, D. (2019). How democracies die (First edition). Broadway Books.

Lindblom, C. E. (1982). The Market as Prison. The Journal of Politics, 44(2), 324–336. DOI: 10.2307/2130588.

Luhmann, N. (1983). Legitimation durch Verfahren. Suhrkamp.

Mehring, R. (2024, März 12). Lesenotiz zu Veith Selks „Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie“. theorieblog.de. [Online].

Möllers, C. (2024, März 1). Das Ende gleicher Freiheit? Politisierung als Problem: Veith Selk diagnostiziert auf argumentativ bestechende Weise eine Rückentwicklung der Demokratie. FAZ, 12. Frankfurter Allgemeine Archiv.

Reckwitz, A. (2019). Von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft zur Drei-Klassen-Gesellschaft: Neue Mittelklasse, alte Mittelklasse, prekäre Klasse. In Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie, und Kultur in der Spätmoderne. (S. 63–133). Suhrkamp.

Schmutzler, T. (2025, März 18). Fünf Jahre nach Corona-Lockdown: „Wir waren damals einfach hilflos“. rbb24. [Online].

Selk, V. (2023). Demokratiedämmerung: Eine Kritik der Demokratietheorie. Suhrkamp.

Wiesner, C. (Hrsg.). (2021). Rethinking Politicisation in Politics, Sociology and International Relations. Springer International Publishing. DOI: 10.1007/978-3-030-54545-1.

  1. Jan-Werner Müller aktualisierte kürzlich diese Theorie und erreichte damit ein breites Publikum auch jenseits der Fachwelt. Selk erklärt den Erfolg der Neuauflage damit, dass sich der pessimistische Liberalismus der Furcht mit der aktuellen negativen Sicht auf die Politik deckt und die wachsende Skepsis gegenüber den Zukunftsaussichten der Demokratie widerspiegelt. 1.
  2. Selk zitiert hier Wiesner, 2021 2.
  3. Dieser Einwand ist als Kritik an der Analyse Comtesse‘ zu verstehen und soll nicht infrage stellen, dass die Corona-Maßnahmen hinsichtlich der Eindämmung der Pandemie notwendig und angemessen waren. 3.