Buchtipps der vergangenen Jahre
Liebe Besucher*innen meiner Lehrveranstaltungen,
ein Jahr, wie es keiner erwartet hatte, geht zu Ende. Anders als 2019, mündet es allerdings in keine Phase der Muße und Kontemplation. Im Gegenteil, wir stehen mittendrin im Pandemie-Geschehen. Vielleicht bietet die Pause aber dennoch den Anlass für Sie, einmal ein Buch aus dem Umkreis unseres Faches ganz zu lesen, selbst wenn es nicht unmittelbar mit einem Seminar oder einer Vorlesung zu tun hat. Zum dritten Mal in Folge daher von meiner Seite ein paar Anregungen. Vielleicht wollen Sie sich ja etwas davon zu Weihnachten wünschen. Viele andere Bücherwünsche sind sicher genauso sinnvoll.
- Wer auch immer sich für das Mittelalter interessiert, sollte irgendwann einmal Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ lesen, bekanntlich ein hintersinniger Krimi mit historischem und philosophischem Tiefgang um fünf Tode in einem Kloster in den italienischen Apenninen. Der Ermittler, der hinzugezogen wird, heißt William von Baskerville (gleich zwei Anspielungen: Wilhelm von Ockham und Sherlock Holmes). Er klärt die Fälle letztlich auf, indem er annimmt, dass es darum geht, den logischen Zusammenhang zwischen ihnen zu erschließen. Mehr wird nicht verraten. (Umberto Eco, Der Name der Rose. Übersetzung von Burkhart Kroeber. München: dtv 2019.)
- Ist es nicht ein altmodisches Anliegen, eine Geschichte Europas im 19. Jahrhundert zu schreiben? Immerhin ist unser Bewusstsein für globale entanglements in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich geschärft worden, und die früheren Projekte namens „Europäische Geschichte“ beruhten meist auf der Prämisse, dass sich „Europa“ aus europäischen Entwicklungen (also aus sich selbst) heraus hinreichend plausibilisieren lässt. Demokratisierung, Industrialisierung, Parlamentarisierung wurden als hausgemachte Produkte behandelt; was über den europäischen Rahmen hinaus interessierte, war allenfalls der Export dieser Errungenschaften in den Rest der Welt. Dies wird man unter dem Eindruck der jüngeren Globalgeschichte anders sehen. Einen gelungenen Versuch, eine europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts auf der Höhe unserer Erkenntnisse zu verfassen, hat der Bielefelder Historiker Willibald Steinmetz nun vorgelegt. Er schafft die Balance zwischen Beschreibungen von europäischen Kulturen wie der britischen, die sich ohne ihre außereuropäische Einbettung überhaupt nicht verstehen lassen, setzt aber mit seinen Schilderungen beispielsweise Preußens, Ungarns oder Finnlands einen Akzent dagegen: Diese müssen unter einem engeren, viel stärker europäischen Blickwinkel gewürdigt werden. Der Text ist nicht in Länderkapitel unterteilt, sondern in Abschnitte zu Gesellschaft und Kultur, Politik und Wirtschaft. (Willibald Steinmetz, Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 6: Europa im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: S. Fischer 2019, 762 S.)
- Es müssen nicht immer ganze Bücher sein – kennen Sie die „Zeitschrift für Ideengeschichte“? Ihr Titel klingt verkopft, ihr Programm ist aber hochinteressant. Sie wird betrieben von Einrichtungen, in deren Archiven und Bibliotheken man prächtige Entdeckungen machen kann. Ihre Hefte leben daher häufig von den Archivfunden, die sie zu durchweg sehr originellen Fragestellungen präsentieren. Die ZIG erscheint viermal im Jahr, die letzten beiden Hefte waren beispielsweise den folgenden Schwerpunktthemen gewidmet: „Feminismus zwischen zwei Kriegen“ im Winterheft 2020, mit Beiträgen zu Helene Langes Ansprache an die erste Hamburger Nachkriegs-Bürgerschaft 1919, über das nicht gerade selbsterklärende Thema „Frau und Dogge“ (der Beitrag schöpft aus den Beständen unserer „Sammlung Historische Kinder- und Jugendbücher“ im Waldweg) und zu Leni Riefenstahls Nachlass. Das Herbst-Heft war überschrieben: „Schiffbruch“: Was passierte, wenn im mittelalterlichen Island ein Wrack an den Strand geschwemmt wurde? Wem gehörte das Treibgut, was war der Status der Überlebenden? Was ereignete sich, als der Universalgelehrte Athanasius Kircher 1631 bei Cassis Schiffbruch erlitt? Zeitschriften dieser Art, noch dazu ausgezeichnet bebildert, laden zum Schmökern und zum selektiven Lesen ein, der Zufallsfund ist Programm. Ein Abonnement ist überflüssig, man kann die Hefte problemlos einzeln kaufen. Getragen wird die ZIG vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, der Klassik Stiftung Weimar, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin und dem Kunsthistorischen Institut in Florenz. (Zeitschrift für Ideengeschichte. 2020 war der 14. Jahrgang. München: C. H. Beck.)
- Schließlich einmal eine ganz andere Textgattung: eine graphic novel mit historischem Tiefgang. Der französische Cartoonist Jacques Tardi, geboren 1946, ist bisher hauptsächlich für seine Adaptionen von Kriminalgeschichten bekannt gewesen. In jüngster Vergangenheit hat er allerdings die Erzählungen seines Vaters René Tardi über seine deutsche Kriegsgefangenschaft und die unmittelbare Nachkriegszeit gezeichnet – in Schwarzweiß, in oft bedrückenden, aber durchweg faszinierenden Bildern. Daraus ist eine Trilogie geworden – man kann ja mal mit dem ersten Band anfangen. Dieser ist dem Alltagsleben im Lager gewidmet, den Überlebensstrategien der Häftlinge, ihren Konkurrenzen und Allianzen und der Art, wie sie ihre soziale Herkunft in dieses existentiell gefährdete Leben hineintragen. (Tardi: Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B. Zürich: Edition Moderne 2013, 188 S.)
Ich wünsche Ihnen gute Gesundheit und viel Spaß beim Lesen!
Ihr Frank Rexroth
Liebe BesucherInnen meiner Lehrveranstaltungen,
wie im vergangenen Jahr will ich die Chance nutzen und Sie kurz vor der Weihnachtspause auf ein paar Neuerscheinungen hinweisen, die eine gute Pausen-Lektüre abgäben. Eine der schönen Eigenschaften dieser Semesterunterbrechung ist, dass man ja einmal ein ganzes Buch lesen kann, selbst wenn es mit keinem Seminar und keiner Vorlesung in einer unmittelbaren Beziehung steht.
- Fangen wir an mit der Cambridger Historikerin Ulinka Rublack und ihrer Studie zu Johannes Kepler, der vor Gericht die Verteidigung seiner Mutter übernimmt – diese war 1615 in ihrem schwäbischen Heimatstädtchen der Hexerei angeklagt worden. Eine meisterhafte microstoria, die der Autorin im November den „Preis des Historischen Kollegs“ eingebracht hat, den renommiertesten deutschen Historikerpreis. (Ulinka Rublack, Der Astronom und die Hexe. Johannes Kepler und seine Zeit. Englisch 2015, dt. Übersetzung Stuttgart: Klett-Cotta 2018, 408 S.)
- Dass Marian Füssels Weltgeschichte des Siebenjährigen Krieges erschienen ist, dürfte Göttingern bekannt sein. Selbstzeugnisse von Kriegsteilnehmern und ihren Zeitgenossen spielen darin eine prominente Rolle. Füssel rekonstruiert aus ihnen die modernen Potentiale dieses Kriegs: seine globale Dimension, die Heldenpropaganda, die Ästhetisierung der Gewalt, die Bedeutung der internationalen Märkte. Das seltene Beispiel einer „global history“ des 18. Jahrhunderts, ein Brückenschlag zwischen Kulturgeschichte, moderner Militärgeschichte und „entangled histories“. (Marian Füssel, Der Preis des Ruhms. Eine Weltgeschichte des Siebenjährigen Krieges 1756-1763. München: C. H. Beck 2019, 656 S.)
- Eine Geschichte der USA, wie es noch keine gegeben hat, hat die Harvard-Historikerin Jill Lepore geschrieben. Sie setzt schon bei Columbus an, um diejenigen „Wahrheiten“ im Entstehen zu beobachten, die im Unabhängigkeitskrieg und in der Verfassung der Vereinigten Staaten dann eine so große Rolle spielen sollten – und konsequent unterlaufen wurden. Ein roter Faden durch die Darstellung hindurch ist dabei die Bedeutung von Sklaverei und Diskriminierung. Sehr essayistisch geschrieben und gleichzeitig sehr reflektiert. (Jill Lepore, Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Amerikanisch 2018, dt. Übersetzung München: C. H. Beck 2019, 1118 Seiten)
- Das aufregendste Buch zum Mittelalter bzw. zur Renaissance, das mir in die Hände fiel, handelt von Klassikern des englischen Theaters. Stephen Greenblatt untersucht William Shakespeares Gestaltung seiner Tyrannenfiguren in den Historiendramen und den Tragödien. Klingt gelehrt, ist aber vor allem doppelbödig. Denn obwohl der Name des derzeitigen US-Präsidenten kein einziges Mal genannt wird, geht es spürbar in jeder Zeile um ihn. Im Sommer kursierte ein Paparazzo-Foto von Angela Merkel, wie sie im Urlaub dieses Buch las, offenbar zur Information über außenpolitische Herausforderungen. (Stephen Greenblatt, Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde des 21. Jahrhunderts. Amerikanisch 2018, dt. Übersetzung München: Siedler 2018, 219 Seiten)
Aber vieles Andere ist sicher auch lesenswert. Viel Spaß dabei!
Gruß,
Ihr Frank Rexroth