In publica commoda

Göttinger Tageblatt vom 3. März 2009:

FUNKELNDES FEUER

Uni-Aula: Klavierabend Lev Vinocour


Lev Vinocour
Virtuose reinsten Wassers: der Pianist Lev Vinocour in der Aula der Universität (Bild: Göttinger Tageblatt/Heller)

Solo-Klavierabende haben in Göttingen manchmal nur wenig Publikum. Bei Lev Vinocour am Sonntag in der Aula der Universität war der Saal gut gefüllt: ein Virtuosenkonzert der Sonderklasse mit großem Suchtpotenzial. Solche Veranstaltungen sollten öfter in Göttingen zu erleben sein.

Er ist kein Freund der zur Schau getragenen Meditation. Ohne Umschweif steigt Lev Vinocour in das kräftezehrende Dutzend der zwölf Etüden op. 10 von Frédéric Chopin ein, lässt im Eröffnungsstück die gebrochenen Akkorde der rechten Hand in schäumenden Wogen über die Tastatur rauschen, während die kraftvolle Linke mit den Bassoktaven die Haltepfähle in die Erde rammt. Die Sechzehntelläufe der a-Moll-Etüde, von Chopin gemeinerweise ausschließlich den schwächeren Fingern der rechten Hand anvertraut, surren dahin, als seien da beide Hände am Werk. Dann wieder klingt tragend und volltönend der edle Gesang der E-Dur-Etüde, perlen die Läufe der Ges-Dur-Etüde auf den schwarzen Tasten, dass man unwillkürlich an eine Art von schwarzer Kunst denken muss.

Lev Vinocour, Schüler von Mikhail Pletnev, ist ein Virtuose reinsten Wassers. Aber er ist kein rekordsüchtiger Kraftprotz, sondern ein Musiker durch und durch. Er denkt über die Musik nach, die er spielt, versucht auch, seine Gedanken in kurzen Moderationen dem Publikum zu vermitteln (wiewohl der von ihm konstatierte Unterschied zwischen einer „subjektiven“ und „objektiven“ Romantik – hier Chopin, dort später Tschaikowsky – definitorisch nicht ganz klar wird).

Orchester in zehn Fingern

Doch einerlei, ob man als Zuhörer dies nachvollzogen hat oder nicht: Seine Interpretation der Lisztschen Bearbeitung zweier Sätze aus Mozarts „Requiem“ ist ein fesselndes Beispiel für die Sicht auf die Wiener Klassik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, sehr expressiv, im Ausdruck das Vorbild schärfend, ja bisweilen extrem übertreibend.

Das ausgedehnte Finale dieses Abends ist Tschaikowskys „Dornröschen“-Musik in Arrangements von Theodor Kirchner, Mikhail Pletnev und Vinocour selbst. Hier gewinnt ein ganzes Orchester in zehn Fingern Gestalt und funkelt in vielen Farben: ein Feuerwerk pianistischer Kunst. Einfach hinreißend. Zwei Chopin-Etüden waren der Dank für prasselnden, lang anhaltenden Applaus.

Michael Schäfer