Predigt als narrative Inszenierung der Heiligen Schrift
Das Forschungsprojekt untersucht die Renarrativierung biblischer Texte in lateinischen Gemeindepredigten des 4. Jahrhunderts. Dabei wird methodisch ein Konzept aus den Literaturwissenschaften aufgenommen, das zwar bereits auf die Untersuchung griechischer Predigten angewendet, jedoch noch nicht an lateinischen Predigtcorpora erprobt wurde. ‚Renarrativierung‘ fragt danach, wie in zeitlichem, medialem, kulturellem und sozialem Abstand zur Ursprungserzählung eine Geschichte in einer Form wiedererzählt werden kann, die den Zuhörenden ein direktes Erfahren (experientiality) des Inhaltes ermöglicht. Übertragen auf das Phänomen der spätantiken Predigt rücken damit einerseits die Exegese des biblischen Textes durch den Prediger, andererseits die rhetorische Vermittlung der exegetischen Überlegungen an die Gemeinde in den Fokus. Damit wird eine Gemeinde – vermittelt durch den Prediger – in direkte Berührung mit der Heiligen Schrift gebracht. Dies wiederum führt zur Entwicklung eines bestimmten individuellen und gemeindlichen Selbstverständnisses: Durch die rhetorisch vermittelte Exegese des Predigers wird die Gemeinde angeregt, ihre je eigene Identität zu reflektieren und gemäß den gepredigten Vorbildern eine kollektiv-christliche Identität auszubilden. Dabei ist anzunehmen, dass sowohl der Gegenstand (die Heilige Schrift) als auch die Intention (ethische Mahnung, dogmatische Unterweisung, Seelsorge), die eine Predigt auszeichnen, zur Entwicklung von spezifischen, d.h. von der klassischen Rhetorik unterschiedenen, sprachlichen und erzählerischen Mustern führt.
Zwei Projektteile fokussieren Zeno von Verona und Chromatius von Aquileia als Beispiele für spätantike lateinischsprachige Prediger, die Renarrativierung kreativ einsetzen. Ein dritter Projektteil unternimmt querschnittsartig vergleichende Untersuchungen bei anderen Predigern. Vergleichspunkte bieten hierbei zum einen die Gestalt des Apostels Paulus, zum anderen die narrative Reinszenierung biblischer Frauenfiguren. Über die thematischen Tiefenbohrungen sollen Schritte in Richtung einer detaillierten Formgeschichte der spätantiken Predigt unternommen werden.
Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ab dem 01.02.2025 für drei Jahre gefördert. Es baut auf der Arbeit der Forschungsprojekts „Predigt als Vorgang religiöser Bildung im spätantiken Christentum“ (2020–24) an der Universität Göttingen auf. Die Projektteile werden von Charlotte Wulfes (Chromatius von Aquileia) und ............ (Zeno von Verona) bearbeitet. Die Projektleitung liegt bei Dr. Dorothee Schenk und Prof. Dr. Peter Gemeinhardt.
Vorbereitende Publikationen der Projektleitenden:
- Gemeinhardt, Peter (2025a, im Druck), Preaching. Christianity. Greek and Latin Patristics: Encyclopedia of the Bible and Its Reception, vol. 24.
- Gemeinhardt, Peter (2025b, im Druck), Dogmatics for the Daily Life: Defining Orthodoxy and Fighting Heresy in the Sermons of Chromatius of Aquileia: Preaching the Christian Life and Faith. Communication of Religious Education in Late Antique Latin Sermons (ed. by Nicolás Anders / Peter Gemeinhardt / Lina Hantel; SERAPHIM; Tübingen: Mohr Siebeck).
- Gemeinhardt, Peter (2022), Wie kommt die Exegese in der altkirchlichen Predigt an?: Kerygma und Dogma 68, 266–289.
- Gemeinhardt, Peter (2021), Die Rhetorik der Predigt der Alten Kirche: Handbuch Homiletische Rhetorik (hg. von Michael Meyer-Blanck; Handbücher Rhetorik 11; Berlin / Boston: De Gruyter) 29–49.
- Schenk, Dorothee (angenommen), Zeno of Verona: Dictionnaire d’Histoire et de Géographie Ecclésiastiques.
- Schenk, Dorothee (2025, im Druck), The Construction of Christian Identity in Zeno of Verona’s Tractatus: Preaching the Christian Life and Faith. Communication of Religious Education in Late Antique Latin Sermons (ed. by Nicolás Anders / Peter Gemeinhardt / Lina Hantel; SERAPHIM; Tübingen: Mohr Siebeck).
- Schenk, Dorothee (2022), Monastische Bildung. Johannes Cassians ‚Collationes Patrum‘ (SERAPHIM 16; Tübingen: Mohr Siebeck).
- Schenk, Dorothee (2020), Von monastischen Reisen und idealen Lehrern. Eine Untersuchung der Rahmenerzählungen in Johannes Cassians Collationes Patrum unter narratologischen Aspekten: Narratologie und Intertextualität. Zugänge zu spätantiken Text-Welten (hg. von Christoph Brunhorn / Peter Gemeinhardt / Maria Munkholt Christensen; SERAPHIM 7; Tübingen: Mohr Siebeck) 123–137.