Ausübung des Demonstrationsrechts oder Ausübung von Gewalt?
Ein Bericht zur Konferenz “Origins of ‘Israel’ through the Centuries” (28.–30.10.2025) und der Julius Wellhausen-Vorlesung am 29.10.2025 an der Georg-August-Universität Göttingen in Verbindung mit der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Das Seminar für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen und die Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hatten am Mittwoch, dem 29. Oktober 2025, zur diesjährigen Julius-Wellhausen-Vorlesung in der alten Sternwarte eingeladen. Die Vorlesung fand im Rahmen einer internationalen Konferenz zum Thema „The Origins of ‘Israel’ through the Centuries“ statt, zu der renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Argentinien, Belgien, Deutschland, Estland, Finnland und Israel eingeladen worden waren. Für die Wellhausen-Vorlesung haben die Veranstalter in diesem Jahr einen renommierten Forscher aus Israel gewinnen können, der in seinen jüngsten Publikationen eine konsequente Historisierung der biblischen Tora-Praxis und Israel-Identität vorgenommen und damit in der Forschung wie in der Öffentlichkeit weltweit große Beachtung gefunden hat.
Gegen die Einladung ist im Vorfeld der Veranstaltung vereinzelt Kritik innerhalb von Universität und Akademie sowie in der lokalen Presse und den sogenannten sozialen Medien laut geworden. Die Kritik richtete sich nicht gegen den Redner, sondern teils gegen die Einladung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Israel generell, insbesondere aber gegen die Universität, an der der Redner der Wellhausen-Vorlesung tätig ist, die Ariel-University. Letztere liegt nicht in den völkerrechtlich anerkannten Gebieten Israels, sondern in der jüdischen Siedlung Ariel in dem ehemals jordanischen Gebiet der sogenannten West Bank, das mehrheitlich von Palästinensern bewohnt wird und in Folge des von Ägypten und Jordanien ausgehenden Sechstagekrieges 1967 von Israel besetzt wurde. Gemäß dem Osloer Abkommen von 1993 liegt die Siedlung Ariel des Näheren in der Zone C, die bis zum Abschluss von – inzwischen abgebrochenen – Friedensverhandlungen von Israel kontrolliert werden sollte. Sowohl die Siedlung Ariel als auch die Ariel-University sind aber völkerrechtlich nicht anerkannt, und ihr rechtlicher Status ist auch in Israel selbst umstritten.
Die Präsidenten von Universität und Akademie, die Veranstalter der Wellhausen-Vorlesung und nicht zuletzt die Studierendenvertretung AStA haben sich mit der Kritik eingehend auseinandergesetzt, sind aber mehrheitlich zu dem Schluss gekommen, an der Einladung festzuhalten. Wie auch bei anderen Ländern, gegen deren Regierung und staatliche Institutionen völkerrechtliche, politische oder ethische Bedenken bestehen (erinnert sei nur an den Völkermord an den muslimischen Uiguren in China), begründet die Einladung keine institutionelle Kooperation mit der fraglichen Universität und legitimiert sie auch nicht, sondern gilt der Forscherpersönlichkeit und ist ausschließlich nach wissenschaftlichen Standards im Rahmen der gesetzlich geschützten Wissenschaftsfreiheit erfolgt.
Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch von Interesse, dass der Gastredner in seinen Kursen, ebenso wie es in allen anderen israelischen Universitäten üblich ist, sowohl jüdische (israelische) als auch nicht-jüdische (arabische) Studierende unterrichtet und – anders als in manchen anderen Ländern – in seiner Freiheit von Lehre und Forschung in keiner Weise eingeschränkt ist, was nicht zuletzt seine konsequent historischen und kritischen Forschungen bezeugen, die einer politisch-ideologischen Vereinnahmung dezidiert entgegenstehen.
Die Veranstaltung konnte nur dank der Hilfe des Wachdienstes der Universität und eines Großaufgebotes der Polizei durchgeführt werden. Schon im Vorfeld wurde von verschiedener Seite durch Empörungsrhetorik, Pressemeldungen, die sich auf durchgestochene Mitteilungen aus internen Beratungen der Universität bezogen, offene Briefe sowie persönlich verletzende und bedrohliche Mails Druck aufgebaut, um die Veranstaltung zu diskreditieren und ihre Durchführung zu verhindern. Auch ein vom AStA zur Deeskalation gewünschtes Gespräch mit den Veranstaltern, dem sich diese ohne Zögern gestellt haben und das nach ihrem Eindruck konstruktiv verlaufen ist, wurde in den sozialen Medien von einer Minderheit instrumentalisiert, um Stimmung gegen die Veranstaltung zu machen. Am Tag der Veranstaltung selbst wurde von einer Gruppe, die sich „Students for Palestine“ nennt, über Instagram für 18 Uhr zu einer Demonstration aufgerufen und die Örtlichkeit der alten Sternwarte in Göttingen von einigen Personen gezielt ausgekundschaftet.
Am Abend versammelten sich ca. 30-40 Demonstranten auf dem Vorplatz des Haupteingangs der alten Sternwarte, von denen einige um Einlass in die Vorlesung baten. Dieser wurde ihnen von den Veranstaltern mit der klaren Absprache gewährt, dass es im Innern des Gebäudes während des Vortrages zu keinen Störungen kommen sollte, was die um Einlass bittenden Demonstranten auch ausdrücklich versicherten. Während der Vorstellung des Redners und des Vortrages selbst verständigten sich einige der im Raum befindlichen Demonstranten jedoch über Handy und begannen eine(r) nach dem anderen mit Zwischenrufen und lauten Vorwürfen gegen die Veranstalter und den Gastredner. Dabei wurde auch der Slogan „From the River to the Sea“ gerufen, der in diesem Kontext implizit zur Vernichtung des Staates Israel und zum Genozid an Juden aufruft. Die Auftritte provozierten (gezielt) auch Gegenreaktionen in dem an dem Vortrag interessierten Publikum, wodurch es zu lautstarken Auseinandersetzungen kam. Die Veranstaltung musste daher mehrere Male unterbrochen werden. Die Störer wurden zunächst an die mit ihnen getroffene Vereinbarung erinnert und gebeten, sich ruhig zu verhalten und zuzuhören, danach aufgefordert, den Saal zu verlassen, was sie lautstark und unter Drohungen verweigerten. Sie mussten schließlich durch Wachdienst und Polizei aus dem Saal befördert werden.
Vor dem Gebäude skandierte die Gruppe während der gesamten Veranstaltung ihre Parolen, die bis ins Gebäude drangen und die Veranstaltung stören sollten. Durch eine Polizeikette und einzelne Festnahmen wurde der Versuch einiger Demonstranten unterbunden, das Gebäude vom Vorder- und Hintereingang her zu stürmen.
Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht sind ein hohes Gut des Rechtsstaates. Wenn jedoch beides genutzt wird, um ein Klima der Angst zu schaffen, die Besucher der Veranstaltung einzuschüchtern und einen wissenschaftlichen Vortrag gezielt durch gebrüllte Parolen und Beschimpfungen von innen und rohe Gewalt von außen zu stören, wird dieses Recht missbraucht. Auch das (naive) Vertrauen der Veranstalter in die Aufrichtigkeit des bei Einlass abgegebenen Versprechens, zuhören und nicht stören zu wollen, wurde von den Störern im Saal gezielt und hinterlistig missbraucht. Die Gäste aus Israel, insbesondere der eingeladene Referent, wie auch jüdische Kollegen und Mitarbeiter der Universität Göttingen und Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Göttingen, die die Veranstaltung besuchten, sowie die anderen Besucher und Studierende waren in hohem Maß verstört und verängstigt und mussten trotz des großen Polizeiaufgebots um ihre persönliche Sicherheit fürchten. Wenn dies die Absicht der Demonstranten war, haben sie ihr Ziel erreicht.
Dass die Stadt Göttingen solche Aufmärsche zur Gewaltausübung auf öffentlichen Plätzen, die nur mit einem großen Aufgebot der Polizei in Zaum gehalten werden können, im Rahmen der Meinungsfreiheit und des Demonstrationsrechts auch ohne Voranmeldung zulässt, beeinträchtigt, wie die Ereignisse gezeigt haben, das Recht auf freien wissenschaftlichen Austausch und gefährdet die körperliche Unversehrtheit der Göttinger Studierenden und Bürger.
Es ist der Courage und Contenance des Gastredners aus Israel zu verdanken, dass er trotz der persönlichen Bedrohung und der permanenten Störungen von innen und außen seinen Vortrag gehalten und das Interesse der Zuhörer, die für seinen Vortrag gekommen sind, durch seine spannenden Ausführungen nie verloren hat. Nach dem Vortrag ist es sogar zu zwei oder drei persönlichen Gesprächen mit Mitgliedern der Protestgruppe im Saal gekommen, die sich an ihr Versprechen gehalten und nicht gestört, sondern zugehört hatten und sich in zivilisierter Weise mit dem Referenten über die Frage ideologischer Voraussetzungen von Wissenschaft und die Gefahr, die davon ausgeht, unterhielten. Unter den sogenannten „Students for Palestine“ und den anwesenden, teils gewaltbereiten Demonstranten blieb das allerdings die Ausnahme.
gez. Prof. Dr. Reinhard Kratz
gez. Prof. Dr. Reinhard Müller